Grenzen zeigen

Nicht aushorchen, Nähe herstellen: Bettina Brauns Dokumentarfilm „Was lebst du?“ über vier junge Männer aus muslimischen Familien schafft das

VON DIETMAR KAMMERER

Um es gleich zu sagen: Bettina Brauns Dokumentarfilm „Was lebst du?“ ist einer der schönsten und beeindruckendsten dieses Jahres. Über zweieinhalb Jahre hat die Filmemacherin die Freunde Ali, Kais, Ertan und Alban mit der Kamera begleitet, hat sie befragt und von sich erzählen lassen: eine Ausdauer, die sich gelohnt hat, denn selten sonst wird man einen ähnlich differenzierten Einblick gewährt bekommen in die Lebensentwürfe und Ansichten von Jugendlichen, die von den Medien normalerweise unter den Rubriken „Parallelgesellschaft“ und „Problemgruppe“ entlang fest eingeschliffener Routinen abgehandelt werden. Hier reden vier junge Männer an der Schwelle zwischen jugendlichem Leichtsinn und dem Ernst des Erwachsenwerdens freimütig über Träume, Hoffnungen und Befürchtungen. Die Konfrontation von traditionellem Elternhaus mit westlichem Lebensstil stellt für sie eine ebenso große Herausforderung dar wie die Aussicht, bald auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Sie stellen sich ihr trotz allem mit Selbstbewusstsein, Humor und einer gehörigen Portion Ironie gegenüber den eigenen Strategien der Selbstinszenierung.

Man kann nur staunen über die Offenheit, mit der hier Menschen über sich berichten. Sie kommen aus marokkanischen, tunesischen, türkischen und albanischen Familien. Sie haben „keinen Schiss vor den Bullen“, aber einen ziemlichen Respekt vor ihren Vätern. Seit sie Kinder sind, treffen sie sich im Kölner Jugendclub Klingelpütz, dem einzigen Ort, an dem sie, die seit dem Kindergarten immer anders waren als die anderen, solche gefunden haben, denen es genauso erging. Heute sind sie wie die meisten ihres Alters, sie rappen am Küchentisch, suchen eine Ausbildung, schlagen sich mit überforderten Berufsberatern herum und haben normale Zukunftswünsche: Promifriseur, Musiker, Schauspieler. Oder, wenn weniger geträumt werden darf, Elektrotechniker.

Ali schafft es tatsächlich, ein Casting für ein Jugendlichen-Musical verschafft ihm unerwartet eine Hauptrolle und einen neuen Konflikt. Einerseits passt es ihm, der die Auftritte als Rapper vor mickrigen 20 Zuschauern im „Klingelpütz“ ohnehin satt hatte, sehr gut. Andererseits darf er seinen Eltern, strenggläubigen Muslimen, nur das Allernötigste davon erzählen. Ein Konflikt, der irgendwie quer liegt: in dem nicht das „Kulturelle“, sondern die ganz normale Sorge von Eltern, die wollen, dass ihr ältester Sohn einen anständigen Brotberuf erlernt, die wichtigste Rolle spielt.

„Was lebst Du?“ ist ein Eine-Frau-Projekt: für Kamera, Regie und Ton zeichnet Bettina Braun selbst verantwortlich. Das und der lange Atem der Langzeitbeobachtung hilft sehr, wenn man andere nicht bloß aushorchen, sondern ihnen wirklich nahe kommen will. Als Dokumentaristin hat Braun sich einer Strategie der gemäßigten Intervention verschrieben. Sie ist präsent, ohne sich in den Vordergrund zu rücken. Nie redet sie mit anderen über ihre vier Protagonisten, wenn diese nicht dabei anwesend sind. Nicht mit dem Leiter des Jugendclubs, nicht mit den Eltern. Die vier sollen selbst bestimmen können, was für ein Bild von ihnen gezeichnet wird, und sie danken es, indem sie so ehrlich als möglich sind. Ehrlichkeit gegenüber der Filmemacherin gehört dazu: „Du hast aber auch echt blöde Fragen gestellt!“, meint einer nach dem Besuch bei den Eltern. Das ist nicht Kritik, sondern Zeichen eines offenen Umgangs miteinander.

Das Vertrauen ihrer Hauptfiguren zu ihr wirkt wie selbstverständlich, aber man braucht nicht anzunehmen, dass es leicht gewonnen war. Vielleicht lag es wirklich, wie der Film in seiner ersten Szene uns glauben machen möchte, an einem entwaffnenden Trick der Regisseurin: Dort erzählt sie den jungen Männern, dass sie schwanger ist, dann lässt sie ihren Bauch berühren. Deren Reaktion: Verblüffung, dann wird ein Spruch geklopft („Jetzt brauchst du nie wieder zu arbeiten!“), dann wird alle Attitüde fallen gelassen. Später dürfen sie ihr Kind auf den Arm nehmen. So lässt Braun die vier teilhaben an ihrem Leben, wie sie an deren Alltag teilnimmt. Wenn ihre Interviewten das so wünschen, schaltet sie die Aufnahmegeräte ab. „Mach die Kamera aus, dann erzähl ich es dir.“ Dass der Dokumentarfilm zeigt, wo er seine Grenzen zieht, beweist seine Ehrlichkeit auch der dritten Gruppe gegenüber: den Zuschauern.

„Was lebst du?“ Regie: Bettina Braun, Dokumentarfilm, Deutschland 2004, 84 Min.