Mama, Papa, Ei

Tantra am Südpol: In „Die Reise der Pinguine“ erfasst der Tierfilmer Luc Jacquet das Leben der Kaiserpinguine mit menschlichen Begrifflichkeiten

Wie erst der Seeleopardenschlund aus der Tiefe des Meeres auffährt: was für ein Close-up,was für ein Schockeffekt

von CRISTINA NORD

Kaiserpinguine sind possierliche Wesen. In Luc Jaquets Dokumentation „Die Reise der Pinguine“ watscheln sie wie Charles Chaplin, turteln wie Jane Birkin und Serge Gainsbourg und tauchen mit größerer Anmut als Jacques Cousteau. Und sie können noch etwas: Sie sprechen, wenn auch nur offscreen, mal mit der Stimme einer Frau, mal mit der eines Mannes und mal mit der eines Kindes. So erklären die Tiere dem Zuschauer, was sie im Laufe eines Jahres tun: Zum antarktischen Wintereinbruch im Februar verlassen sie den Ozean, marschieren 200 Kilometer polwärts, finden ihren Brutplatz, paaren sich, legen pro Paar ein Ei und brüten es in einer Hautfalte zwischen ihren kurzen Beinen aus. Erst ist das Männchen an der Reihe, das Weibchen tritt derweil die beschwerliche Reise zurück zum Meer an. All die Zeit über haben die Pinguine nichts gefressen; nun füllt zunächst das Weibchen seinen Bauch mit Fisch, um sich und später das Küken zu ernähren. Wenn es zurückkehrt, ist das Küken schon geschlüpft, und die Männchen brechen auf, ausgezehrt von der langen Fastenzeit. Eisige Winde und Riesensturmvögel bedrohen die zurückbleibenden Vögel. Doch viele halten stand, und am Ende machen sie sich gemeinsam auf den Weg zur See.

Manche Einstellungen von „Die Reise der Pinguine“ sind hinreißend. Am Anfang zum Beispiel erfassen Panoramatotalen die Eislandschaften, und in der Bildtiefe tauchen wankende, schwankende Gestalten auf, vom Kälteflimmern in die Schemenhaftigkeit gezwungen. Das erinnert an Szenen wie die aus „The Brown Bunny“, in der Vincent Gallo auf dem Motorrad in eine Salzwüste hineinfährt, bis er sich in einen schwarzen Punkt im weißblauen Nichts verwandelt und der Sog des leeren Bildes seinen Höhepunkt erreicht. Dann jedoch ist es, als wollte Jaquet hinter jedes Bild ein Ausrufezeichen setzen. Schaut euch dieses Blau an, dieses Weiß, diese Eisformationen. Freut euch an den Choreografien, die sich aus den Bewegungen schwarzer Pinguinrücken und weißer Pinguinbäuche ergeben. Und wie erst der Seeleopardenschlund in blitzartiger Montage aus der Tiefe des Meeres auffährt: was für ein Close-up, was für ein Schockeffekt. Normalerweise kennt man solche Vagina-Dentata-Bilder aus Filmen, die im Grenzbereich von Tierhorror und creature feature siedeln.

In den USA hat „Die Reise der Pinguine“ eine kuriose Kontroverse ausgelöst. Konservative Christen versuchen Jaquets Film für sich zu vereinnahmen, weil er in ihren Augen Werte propagiert, die sie als die ihren betrachten: Monogamie, Familiensinn, Aufopferungsbereitschaft. Außerdem müsse das Überleben der Pinguine unter so widrigen Umständen Ergebnis von intelligent design sein, Ergebnis also eines Schöpferwillens. Wer aus religiösen Gründen an der Evolutionstheorie zweifelt, mag sich hierdurch bestätigt sehen.

Konter kam zunächst von homosexuellen Aktivisten: Es gibt auch schwule Pinguine! Inzwischen hat sich auch der Regisseur zu Wort gemeldet: „Es sind nur Pinguine“, schrieb er beschwichtigend in Le Monde. Damit zieht er haarscharf die Grenze zwischen Mensch und Tier, die er in seinem Film zur Disposition stellt. Die Balz und das Paarungsritual beispielsweise setzt er in Szene, als besuchten die Pinguine ein Tantra-Seminar. Die Frauenstimme erklärt: „Hier in unserer Oase der Liebe werden wir jedes Jahr neues Leben schenken.“

Als ein Seeleopard einen weiblichen Pinguin tötet, heißt es: „Mit einem einzigen Biss hat das Monster zwei Leben ausgelöscht – das der Mutter und das des Kindes, das nun nicht mehr gefüttert wird.“ Monster, Mutter, Kind: Sind das die Begriffe, in denen Pinguine die Welt wahrnehmen? Nachdem bei einem Unwetter zahlreiche Küken erfroren sind, filmt Jaquet die übrig gebliebenen Tiere, als hätte tiefe Trauer sie befallen. Doch wie zwingend ist die Hypothese, ein Pinguinweibchen beweine ein totes Küken in dem Maße, wie eine Mutter um ein totes Kind klagt, angesichts des Umstands, dass die Natur willkürlich und teilnahmslos zuschlägt?

Je länger „Die Reise der Pinguine“ andauert, umso mehr wünscht man sich, Jaquet möge das Spezifische einer Pinguinexistenz in den Vordergrund rücken, möge ihr Geheimnis, wo er es nicht lösen kann, doch wenigstens gebührend würdigen. Stattdessen versucht er, die Welt der Pinguine in den Kategorien des Menschen zu erfassen. Damit betritt er das Glatteis, auf dem der Behaviorismus seine tautologischen Pirouetten dreht. Von tierischen Verhaltensweisen wird monokausal auf menschliche geschlossen (männliche Menschenaffen verhalten sich auf diese und jene Art, also tun es Männer auch) – und umgekehrt dann wieder von menschlichen zurück auf tierische. Erklärt wird damit wenig, egal in welche Richtung die Argumention verläuft. Eher schlägt die Naturbeobachtung in Ideologie um. Je unbarmherziger „Die Reise der Pinguine“ dem Primat der Fortpflanzung huldigt, umso mehr drängt sich der Eindruck auf, die christlich-fundamentalistischen Freunde des Films lägen mit ihrem Jubel genau richtig.

„Die Reise der Pinguine“, Regie: Luc Jaquet, Tierdokumentation, Frankreich 2004, 86 Min.