Die Inseln, der Krieg und das Leben

Viel Sinn fürs Kleine, nicht wenig Komik, aber auch eine Idee zu viel Pathos: Tim Bindings Falkland-Roman „Henry Seefahrer“

VON MAIK SÖHLER

Am 2. April 1982 besetzen argentinische Truppen die zu Großbritannien gehörenden Falklandinseln, eine im Südatlantik gelegene Ansammlung von Felsen, Schafen und ein paar Siedlern. Sieben Wochen später landen britische Soldaten und können nach kurzen, aber heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen die Argentinier zum Rückzug bewegen. Seit dem 14. Juni 1982 sind die Falklands wieder integraler Bestandteil des Königreiches. Genau in diesem Zeitraum spielt der Hauptteil von Tim Bindings Roman „Henry Seefahrer“. Der britische Autor erzählt noch einmal von einem der kürzesten Kriege der Neuzeit, vor allem aber von der Zeit vor dem Eintreffen der britischen Flotte auf den Falklands, als sich Großbritannien nach langer Absenz wieder zum Krieg rüstet.

Henry heißt Bindings Hauptfigur, die als Mitglied eines Militärorchesters die im Konvoi in den Südatlantik verschifften Truppen zu unterhalten hat und im Gefechtsfall als Sanitäter aushelfen muss. Doch dabei bleibt es nicht, im Kampfesrausch metzelt er nieder, was sich bewegt. Darunter haben diverse Argentinier körperlich und Henry selbst psychisch zu leiden. Zurück in London, wird er sich fünf Jahre lang an sein auf den Inseln gegebenes Versprechen halten, „nie wieder Laute von sich zu geben, die ihn als Menschen auswiesen“.

So beginnt der Roman, und anfangs fällt es Henry leicht, stumm zu sein. Als ihm aber Bekannte aus seiner Kindheit begegnen, muss er sein Schweigegelübde brechen. Henry verirrte sich als Kind im vorweihnachtlichen London, im dichten Nebel verlor er seine Mutter und auch ein Buch, in dem seine Adresse notiert war. Er wuchs bei dem Mann, der ihn mitten in der Metropole fand, und später im Kinderheim heran, bevor die Armee zu seiner Ersatzfamilie wurde. Seine Mutter kehrte indes verzweifelt zu jener Adresse zurück, die in Henrys blauem Büchlein notiert war: in die zu einem namenlosen Vorort gehörende Anglefield Road.

In dieser kleinen Straße entwickelt Binding seine Geschichte über einen verschollenen Jungen, seine gebrochenen Eltern und deren Nachbarn, die allesamt mit dem Schicksal Henrys und seinem Einsatz im Krieg verknüpft sind. Auf den ersten Blick ist die Anglefield Road eine konservative Vorstadtidylle, hier leben zurückgezogen Henrys Vater Hector und Mutter Marjorie Armstrong. Ihre einzige Leidenschaft gilt Büchern, die dem Henrys ähnlich sind, da sie hoffen, dass ihre Gleichung aufgeht: „Das Buch suchen, den Jungen finden.“ Auf 520 Exemplare haben sie es mittlerweile gebracht. Hier leben außerdem Patsy und Freddie Millen, Richard und Ellen Roach mit Sohn Mark sowie Matty Plimsoll mit Tochter Marcia und seiner zweiten Frau Susanne.

Binding verwandelt die Anglefield Road und ihre Bewohner in einen Mikrokosmos der britischen Gesellschaft und der internationalen Ereignisse. Wie unter den zeitgenössischen Schriftstellern sonst nur Stewart O’Nan wechselt er virtuos die Erzählperspektiven, sodass wir die Welt aus der Sicht fast aller im Buch vorkommenden Figuren wahrnehmen können. Wir erleben die Freude des vom Rasenmähen besessenen Freddie Millen, als er in der Garage seine Sammlung bestaunt und sich an die Herausgabe einer Rasenmäherfachzeitschrift macht. Wir sind dabei, als Ellen Roach ein Verhältnis mit dem Vorgesetzten ihres Mannes anfängt, während dieser sich und seine Familie gegenüber einer jungen Frau neu erfindet. Und wir gehen mit Suzanne an Board der „Canberra“, eines Kreuzfahrtschiffs, das für den Truppentransport auf die Falklands umfunktioniert wurde.

Alles hängt mit allem zusammen, suggeriert Binding, und deswegen befindet sich natürlich auch Henry auf der „Canberra“, der als einsamer Musiker unter tausenden Soldaten selbstverständlich von der einsamen Schiffshostess Suzanne erwählt wird und – argh!, Sie wissen schon. Zudem bekommt auch noch Richard Roach nicht nur eine Kindheit in jenem Waisenhaus untergeschoben, in dem auch Henry war. Nein, beide müssen auch noch als Balljungen in Wimbledon bei einem Tennisspiel von Weltrang mit den Köpfen zusammenkrachen. Gute Entwicklungsromane funktionieren anders. Viel besser wird es auch nicht dadurch, dass sich Binding häufig an der filigranen Überleitungstechnik eines William Gaddis versucht, leider nur selten mit Erfolg.

Dabei müssten solche Ausfälle gar nicht sein. Denn dort, wo Binding über scheinbar Nebensächliches schreibt, gelingen ihm mitunter brillante Passagen. Die Charakterisierung von Suzannes Zwiespalt zwischen einem unbefriedigenden Familienleben in der Vorstadthölle und der glücklichen Arbeit an Deck eines Kreuzfahrtdampfers ist genauso gelungen wie Henrys Amoklauf im Kampfeinsatz oder die Beobachtung der britischen Gesellschaft im Kriegsfieber: „Die Menschen richteten den Blick auf den Flugzeugträger ‚Hermes‘ mit seinem näselnden Admiral und seinen Harrier Jets, auf die graue Anonymität der Kriegsschiffe.“

An Komik mangelt es in „Henry Seefahrer“ ebenfalls nicht, was die Beschreibung des Alltags und der Riten von Soldaten an Deck und Henrys Showdown mit einem Pinguin beweisen. Schade nur, dass Binding seinen Sinn fürs Kleine so oft dem großen Zusammenhang opfert und die Komik irgendwann auch noch dem Pathos weichen muss. Wenn, wie von ihm unterstellt, wirklich alles mit allem zusammenhinge, müsste doch eigentlich Platz für alles vorhanden sein.

Tim Binding: „Henry Seefahrer“. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein. Marebuch Verlag, Hamburg 2005, 608 S., 24,90 Euro