Der Sprung nach Europa

Am 22. Dezember 2000 brachen sie auf mit 100 Euro und einer fixen Idee. „Irgendwo dort im Norden Afrikas liegt eine Stadt, die Melilla heißt und zu Europa gehört“

AUS MELILLA REINER WANDLER

„Stolz, einfach nur Stolz“ verspürte Benadou Njibie, als er vor zehn Tagen in den frühen Morgenstunden endlich auf spanischem Boden stand. Hinter dem jungen Schwarzafrikaner lag der doppelte Grenzzaun, der die spanische Enklave Melilla von Marokko trennt. Und hinter dem Grenzzaun liegt ein knapp fünfjährige Reise von Benadous Heimat Kamerun bis hierher, zum europäischen Außenposten auf afrikanischem Boden. Ein Weg, den der 23-Jährige mit seinem besten Freund, dem zwei Jahre älteren Bejamin Defo, geteilt hat. „Wir sind wie Brüder“, bestätigen sie und schauen sich an, als hätten sie zusammen eines der härtesten Abenteuer gemeistert, das unsere Zeit zu bieten hat: die Suche nach einem besseren Leben.

Benjamin und Benadou sind zwei von 1.600 Schwarzafrikanern, die im Ceti, dem Notaufnahmelager für Immigranten, leben. Für 450 Flüchtlinge hatte das Rote Kreuz hier am Stadtrand einst Baracken aufgestellt. Da seit Sommer immer mehr gegen die Grenzanlage anstürmen, viele durchkommen und in Melilla auftauchen, wurde das Lager immer wieder erweitert. Während die beiden ihre Geschichte erzählen, wird die letzte Reihe mit 20 Großraumzelten für die 350 Flüchtlinge, die am Montag über den Zaun kamen, fertig gestellt.

„Es war ein langer, harter Weg“, erzählt Benadou. Keine Grenze konnte sie aufhalten. Wie zum Beweis zeigt der junge Mann seine Handflächen. Sie sind voll von halb verheilten Wunden. Der Nato-Stacheldraht, der die drei Meter hohe Grenzbarriere krönt, hat sich tief ins Fleisch der beiden Afrikaner geschnitten. „Wir banden mit Plastiktüten Äste zu einer Leiter zusammen und kletterten daran hoch. Oben lässt du dich dann über den Stacheldraht rollen und plumpst nach unten“, erzählt Benjamin. Er zeigt dabei sein breites, sympathisches Grinsen. Die andere Leiter wird nachgeholt und am zweiten Zaun angelegt, wo auf der Innenseite die spanische Grenzpolizei patrouilliert, allerdings in Abständen. Das ist die Chance. Die Operation wiederholt sich. Völlig erschöpft, mit unzähligen Wunden und zerfetzten Klamotten landen sie in Melilla. „Das ist ganz schön gefährlich. Du kannst dir was brechen oder dich gar tödlich verletzten beim Sprung“, weiß Benjamin. Benadou nickt.

Mittlerweile sind beide frisch eingekleidet. Benadou sieht in grauer Trainingshose und T-Shirt aus, als käme er vom Joggen. Benjamin trägt Jeans und ein olivfarbenes Shirt mit Wappen und Schriftzug der spanischen Armee. Er ist stolz auf dieses camiseta, schließlich ist Spanien seine neue Heimat. Hier wollen sie bleiben. Auch wenn sie einmal viel Geld verdienen sollten, an eine Rückkehr denken sie nicht.

Die beiden sind kokett, selbst jetzt, wo sie kaum etwas besitzen. Benjamin hat sich aus einem weißen Handtuch ein Stirnband geschlungen, das leuchtend von seiner dunklen Haut und dem kurzen Haar absticht. Benadou, der einen Schlapphut aus Stoff trägt, wie ihn sonst nur Touristen benutzen, hat seine mit Wunden übersäten Handgelenke mit zwei orangefarbene Armbändchen verziert. Doch die größte Errungenschaft sind die Schuhe an den mit Hornhaut und Schwielen bedeckten Füßen. Benjamin trägt Plastikbadelatschen und Benadou die typischen, spitz zulaufenden, marokkanischen Lederbabuschen. Beide waren barfuß, als sie vom Zaun nach Europa fielen. So haben sie den größten Teil des Weges von Kamerun zurückgelegt.

Benjamin und Benadou kommen aus demselben Stadtteil in Douala, einer Stadt an Kameruns Atlantikküste. Sie gingen in dieselbe Schule und bolzten zusammen auf den gleichen Plätzen. Schließlich schmiedeten sie zusammen Pläne. Sie sahen keine Zukunft mehr für sich. Nach der Oberschule arbeiteten sie jahrelang in Gelegenheitsjobs „in allem, was wir irgendwie können“ – vom Bau bis zur Autowerkstatt, vom Säckeschlepper bis zum Lkw-Fahrer. „Was in Europa eine gute Arbeit ist, bringt bei uns nichts ein“, sagen sie. Benjamins Vater ist Automechaniker, Benadous Vater installiert Klimaanlagen. „Der Lohn 25 Euro“, sagt Benadou, „im Monat“, schiebt Benjamin nach.

„Es war am 22. Dezember 2000, als wir aufbrachen“, erzählt Benadou, der gesprächiger ist als sein Freund, in fließendem Französisch. 100 Euro hatte jeder in der Tasche und eine fixe Idee. „Irgendwo dort im Norden Afrikas liegt eine Stadt, die Melilla heißt und zu Europa gehört.“ Von Douala ging es durch ganz Kamerun bis nach Nigeria, von dort in den Niger. Sie nahmen Sammeltaxen, fuhren per Anhalter auf Lkws oder gingen zu Fuß. Immer wieder arbeiteten sie, um ihr Erspartes zu schonen. Schließlich leisteten sie sich ein Taxi, das sie im Niger in die Wüste brachte. „15 Kilometer vor der libyschen Grenze setzte uns der Fahrer ab“, erinnert sich Benadou. Damit begann der schwierigere Teil der Reise.

Zu Fuß ging es durch die Sahara nach Libyen in das Reich von Oberst Muammar al-Gaddafi. Ein Jahr und sechs Monate sollten sie dort bleiben. „Wir brauchten Geld und arbeiteten auf dem Bau oder was sonst so anfiel.“ Nur ungern denken sie an diese Zeit zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhren sie, was Rassismus ist. „Die Libyer behandelten uns wie den letzten Dreck“, erzählt Benadou. Zum Arbeiten für billiges Geld waren sie im arabischen Land willkommen. Für mehr jedoch nicht. So hielten sie sich getrennt von den Einwohnern auf, um keine Probleme zu haben. Dennoch lernte beide einiges an Arabisch. „Nachdem wir umgerechnet 50 Euro zusammengespart hatten, ging es nach Algerien“, fährt Benadou fort. Wieder setzte sie jemand vor der Grenze ab. Und wieder ging es zu Fuß durch die Sahara. In der algerischen Wüste laufen alle Fluchtrouten zusammen. Aus Libyen, Mali, aus dem Niger, von überall her kommen die Schwarzafrikaner über die weitläufige Grenze. Nur die Stärksten schaffen es. Notdürftig angelegte Gräber in der Wüste zeugen davon.

„Djanet, Illizi, Ouargla, in jeder dieser Städte hielten wir uns mehrere Monate auf.“ Wieder fehlte es an Geld, wieder mussten die beiden arbeiten. Doch oft währte die Freude am Ersparten nicht lange. Denn die Wüstenbewohner nehmen hohe Preise, um die Immigranten zu führen oder in einem Fahrzeug mitzunehmen. Andere machen es sich noch einfacher, und holen sich die paar Scheine mit Gewalt. „Es gibt viele Räuber, und sie sind bewaffnet, da kannst du nichts machen“, erinnert sich Benadou an die Überfälle.

Schließlich gelangten sie ins westalgerische Oran, nahe der Grenze zu Marokko. Wieder war das Geld zu Ende, wieder wurden es mehrere Monate. Autos waschen oder Hecken schneiden. Als Mädchen für alles bei Algeriens neuer Mittelklasse verdienten sie umgerechnet 2 Euro am Tag. Rund ein Drittel dessen, was ein Einheimischer bekommt. Sie schliefen im Freien auf der Place des Armes, dem kolonialen Herzen der einst französischen Mittelmeerstadt Oran.

Dennoch sind Benadou und Benjamin voll des Lobs für Algerien: „Dort gibt es Menschenrechte. Das ist fast schon wie Europa.“ Wer das nordafrikanische Land kennt, kann sich vorstellen, wie schlimm es für die beiden Schwarzen in Libyen war und wie es erst in ihrer Heimat Kamerun aussehen muss.

Schließlich ging alles ganz schnell. Im Sammeltaxi fuhren sie an die marokkanische Grenze. Auf engen Pfaden gelangten sie nach Oujda, einer heruntergekommenen Stadt auf marokkanischer Seite. Leer stehende Hotels erinnern an die einstige Blütezeit des Orts. Bevor die Grenze in den 90er-Jahren nach einem islamistischen Anschlag in Marrakesch geschlossen wurde, wurde hier reger Handel betrieben. Heute lebt die Stadt von Schmuggel aller Art, auch mit Menschen wie Benadou und Benjamin.

145 Kilometer waren es jetzt noch. Aus Angst vor der marokkanischen Gendarmerie und einer möglichen Abschiebung zurück nach Algerien legten sie die in zehn Nächten zu Fuß zurück. „Endlich lag Melilla vor uns“, erinnern sich die beiden. Zum ersten Mal sahen sie den Grenzzaun, die spanische Polizei und die Wachtürme. „Abschrecken ließen wir uns davon nicht.“ Nach den vielen Strapazen waren sich Benadou und Benjamin ganz sicher, dass sie auch diese Hürde nehmen würden.

Doch sie hatten sich noch nicht richtig im improvisierten Camp im nahen Wald eingerichtet, da gab es eine große Razzia. „Die Marokkaner nahmen uns alles ab, verluden uns auf Lkws.“ Es ging zurück nach Oujda und dann ab über die algerische Grenze. „Zehnmal sollte uns dies passieren. Zehnmal kamen wir zu Fuß zurück, bis wir endlich den Zaun überwanden“, beschreibt Benadou die zermürbende Tretmühle, in der sie eineinhalb Jahre gefangen waren. „Doch wir waren stark genug“, erklärt Benadou. Wieder ist dieser Stolz in der Stimme. „Geschafft“, lächelt auch Benjamin.

Auch wenn sie nicht wissen, warum, eines ist ihnen klar: Die Spanier schieben keine Schwarzafrikaner ab. Wer nicht freiwillig geht, bleibt ohne Papiere, als sin papeles. Denn anders als mit Marokko hat Madrid mit den meisten Ländern jenseits der Sahara kein Rücknahmeabkommen. Daher haben sie sich freiwillig bei der Polizei gemeldet. Zufrieden zeigen sie eine Vorladung für Ende Oktober. Das erste offizielle europäische Dokument. Dann wird ihnen der nutzlose Abschiebebescheid zugestellt. Benjamin und Benadou brauchen nur etwas Geduld. Denn jedes Mal, wenn zu viele Einwanderer in Melilla sind, werden sie ins Mutterland ausgeflogen. „Dann gehen wir nach Almeria.“ Dort in Südspanien gebe es genug Schwarzarbeit in der Landwirtschaft, sind sich die beiden sicher. Ein Freund aus Douala, der schon länger dort lebt, hat es ihnen per Handy erzählt.