Unbekannte Landschaften

Balkan-Bücher Der Literatursommer Schleswig Holstein präsentiert Schreibende aus Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina – überfällig, sagt Verleger Lojze Wieser

Symbol für Gemeinsamkeiten: Seit 2005 steht im bosnischen Mostar diese Statue von Bruce Lee – weil den Schauspieler Kroaten ebenso wie Serben und Bosnier verehren Foto: Damir Sagol/Reutersj

von Frank Keil

Was das Gemeinsame der serbischen, der kroatischen und der Literatur aus Bosnien-Herzegowina sei? „Dass sie unbekannt oder zumindest wenig bekannt sind“, sagt Lojze Wieser, Autor und Chef des Wieser-Verlages mit Sitz in Klagenfurt. In den kommenden Tagen wird er als Vermittler der Literaturlandschaften der Balkanländer ganz persönlich zwischen Munkbrarup, Lübeck und Süderbrarup unterwegs sein – wo sich der diesjährige Literatursommer eben diesen drei südosteuropäischen Ländern widmet. Und wenn einer sich mit ihren Literaturen auskennt, dann Wieser. Schließlich ist in seinem Verlag einiges von Autoren jener Regionen erschienen, nicht zuletzt das Frühwerk von Dževad Karahasan, der heute als der wichtigste zeitgenössische Schriftsteller Bosniens gilt.

Gefragt, warum selbst an Literatur Interessierten diese Welten recht fremd sind, holt Wieser kurz aus und verweist auf das Jahr 1961, als mit Ivo Andrić immerhin ein Nobelpreisträger aus dem damaligen Jugoslawien gekürt wurde – was heute weitgehend vergessen ist. Damals seien nach und nach einige gute Leute bekannt geworden. Aber dann sei der Krieg gekommen, sagt Wieser. „Und im Zuge dieses Krieges hat man sich auf die Suche nach Antworten auf die Katastrophe begeben, meist ohne Wissen über die Geschichte und ohne Kenntnisse über die Region, hat dabei bestimmte Chauvinismen und Nationalismen mitbedient“, sagt er. Und setzt hinzu: „Sie erinnern sich sicherlich an die scharfen Diskussionen, die es über Peter Handke gegeben hat.“

Nur punktuelles Interesse

Was darüber bald vergessen worden sei: dass es dort eine lange Tradition der kulturellen und sprachlichen Verschiedenheiten gebe, die nicht nur geprägt sei durch Österreich-Ungarn und dessen Okkupationspolitik – „deren Befestigungen und Straßen übrigens bis heute halten“. Erforderlich sei deshalb nun eine Art Neustart. Der aber werde dadurch erschwert, dass die Europäische Union und ihre kulturpolitischen Institutionen zu wenig in den Erhalt der verschiedenen Sprachen und in die Förderung der kulturellen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten investierten. In den vergangenen Jahren hätten diese Ländern literarisch „nur punktuell“ interessiert, sagt Wieser. Sehe man von wenigen Ausnahmen ab, beschränkten sich die Verlage auf Autoren, die von dort weggegangen seien und heute auf Deutsch schrieben, so Wiesers derzeitige Bilanz.

Damit sich das ändert, damit überhaupt all die Klischees nicht zuletzt aus den Zeiten des jugoslawischen Bürgerkrieges zur Seite geräumt werden können, hat Wieser ein besonderes Format im Gepäck: Denn der Büchermensch, dessen Verlag in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert, hat sich mit dem Fernsehen eingelassen und produziert seit zwei Jahren die Reihe „Der Geschmack Europas“ für den ORF und für Arte.

Der Clou: In kleinen, handlichen Filmen werden Kultur und Gastronomie miteinander verknüpft und so durch die verschiedenen Regionen Europas geführt. „Kommen Sie zur Mühle in Munkbrarup, da kochen wir was“, sagt er denn auch gutgelaunt. Ebenfalls dabei: eine Art Best-Off-Ausgabe seiner mittlerweile 200-bändigen Buchreihe „Europa erlesen“, die literarische Sammelbände über Mostar und Zagreb, über Sarajewo und Belgrad sowie die Terra Bosna umfasst.

Und überhaupt? Empfehlenswert sind gewiss die Lesungen mit Barbi Marković, 1980 in Belgrad geboren und dort aufgewachsen. Ihr Roman mit dem vielleicht erst mal nicht so lockenden Titel „Superheldinnen“ entpuppt sich dann aber als ein überraschend dekonstruierter Roadmovie und switcht gekonnt zwischen Berlin, Belgrad, Sarajevo und immer wieder Wien. Und Marković, die schon Thomas-Bernhard-Romane remixte, verblüfft mit einem rasanten, rauen Stil, sodass Vergleiche mit Rosa Liksom und Kathy Acker sich aufdrängen, wenn sie ihrem Frauen-Trio folgt, das gleichermaßen fasziniert wie angewidert vom Schmelztiegel Großstadt ist: „Wir kannten das Leben nur aus der städtischen Perspektive und leider zählten wir nicht zu denen, die in ihrer Kindheit Schweineblut in Eimern aufgefangen hatten.“

Politisches Programm

Prominente Unterstützung erhält Miljenko Jergović: Auszüge aus seinem wuchtigen Romanwerk „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ (1.144 Seiten!) liest Miroslav Nemec, der seit 26 Jahren als bayrisch-kroatischer Tatort-Kommissar Ivo Batic unterwegs ist. Vladimir Kecmanović wiederum schickt sein Gangsterpärchen im Roman „Sibirien“ in den Transit zwischen Serbien und Kroatien, wo ganz andere Grenzen als die nationalen verlaufen – und wirken.

„Es ist diesmal ein sehr politisches Programm geworden“, fasst Sara Dušanić vom Kieler Literaturhaus, die auch diesmal für das Programm verantwortlich ist, die insgesamt 31 Lesungen, Vorträge und Gesprächsabende zusammen. „Die Länder Südosteuropas scheinen uns hier im Norden nicht sehr nahe“, sagt sie. „Aber wenn man sich inhaltlich mit dem befasst, was dort in den letzten Jahren literarisch geschaffen wurde, findet man all die Themen, die auch bei uns in aller Munde sind.“

Bewahrtes Wissen

Exemplarisch verweist sie auf den Roman „Verlorene Söhne“ von Murat Baltić: Baltić lässt seinen kosovarischen Helden, ein Rom, samt seiner Familie vor einem deutschen Beamten der Ausländerbehörde antreten. Der hat seinerseits gerade seinen Sohn verloren, der als KFOR-Soldat während eines Einsatzes ums Leben kam; entsprechend durchgeschüttelt ist er – und das hat Folgen für beide.

Und nicht zuletzt wird auch Dževad Karashasan verschiedentlich vor Ort sein und seinen aktuellen Roman „Der Trost des Nachthimmels“ präsentieren. Der führt zunächst in eine Zeit, die auf den ersten Blick nichts mit unserer Gegenwart und den in ihr stattfindenden Erschütterungen zu tun hat: ins Persien des 11. Jahrhunderts, wo eine im Grunde offene, wissbegierige und entsprechend gesprächsfreudige Gesellschaft immer mehr unter dem Druck fundamentalistischer Glaubenseiferer ins Wanken gerät.

Der Roman ist aber auch eine Aufforderung, trotz aller erlebter Niederlagen das Wissen um diese und die Zeiten davor unbedingt zu bewahren – weshalb wir am Ende des Buches in der Bi­bliothek von Sarajewo stehen, die 1992 nach dem Beschuss durch die serbischen Belagerer ausbrannte. Und mit ihr ein Teil des Gedächtnisses eben nicht nur eines Staates verschwand, sondern mehr noch der einer ganzen Region.

Literatursommer Schleswig-Holstein mit Literatur aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien: So, 23. 7., bis Fr, 25. 8.

Offizielle Eröffnung mit Dževad Karahasan und Lojze Wieser: Di, 25. 7., 19 Uhr, Schleswig, Schloss Gottorf.

www.literaturhaus-sh.de/projekte/literatursommer.html