Boykott-Aufruf zum ESC in Israel: Übliche Verdächtige

Viel antiisraelische Prominenz fordert den ESC 2019 in ein anderes Land zu verlegen. Leider auch bisher verehrte Künstler*innen.

In einem Konfettiregen steht eine junge Frau, hinter ihr die israelische Flagge

Konfetti für die Königin Netta Barzilai aus Tel Aviv – am 12. Mai in Lissabon Foto: ap

War doch klar, dass eine solche Kampagne kommen würde: Eine, die fordert, im kommenden Jahr in Israel keinen Eurovision Song Contest stattfinden zu lassen. Aber spätestens in der Nacht, in der Netta Barzilai in Lissabon das Eurovisionsfestival gewann, sie obendrein noch in der Minute ihres Sieges mit dem Titel „Toy“ Jerusalem als Ort des 63. Eurovision Song Contest nannte, musste mit antiisraelischer Kritik an der Geschichte gerechnet werden.

Und seit Sonntag, mit einer Veröffentlichung in der britischen Zeitung Guardian wissen wir: Die Forderung nach einem Boykott des ESC im Mai 2019 wird von zentralen Figuren der sogenannten BDS-Bewegung getragen, etwa dem Pink-Floyd-Urgestein Roger Waters.

Der Aufruftext zum Boykott der größten europäischen TV-Popveranstaltung lebt von den üblichen Haltungen der BDS-Akteur*innen: Israel – im übrigen mit seinem Sender IBA Mitglied des öffentlich-rechtlichen TV- und Radionetzwerks EBU seit 1957; die EBU hat Mitglieder auch jenseits der zu Europa gehörenden Länder – unterdrücke die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen und in der Westbank, töte viele Menschen, ausgerechnet auch nach dem vierten ESC-Sieg Israel im Mai in Portugal.

Was an diesem Boykottaufruf verstört, ist nicht, dass er lanciert wurde, das war zu erwarten. Sondern, dass er viele Namen mit enthält von Personen, die man bislang nicht mit Protestnoten im politischen Bereich verband: Yann Martel, Musiker, die Regisseure Ari Kaurismäki, Mike Leigh und Ken Loach, auch Brian Eno, die Ikone der Caffe-Latte-Jet-Set-Musik ist dabei, ebenso der norwegische Jazzer Bugge Wesseltoft – von Brian Eno abgesehen keine lautstarken Barrikadenkämpfer im Politischen bislang.

Viele von ihnen gehören zu jenen, die immer dabei sind, wenn es gegen Israel geht. Auch die Filmschauspielerin Julie Christie ist nicht bekannt dafür, sich in puncto Solidarität die Dinge, mit denen sie sich einverstanden erklärt, lieber einmal mehr zu überlegen als zu wenig: Eventuell weiß sie nicht, dass Kritik an der Politik Benjamin Netanjahus in Israel selbst schärfstens und differenziert ausgetragen wird – und wollte sich deshalb für die Sache der Palästinenser verwenden.

Oberbescheidwisserinnen kann man nicht lieben

Verstörend ist eher, dass Musikerinnen wie Mari Boine, Mary Coughlan und Mary Black das Papier mittragen: Sie sind alle auf der persönlichen All-time-favourites-Playlist vieler Menschen – und auch auf der des Autors. Eher melancholisch gesinnte Frauen, allesamt kulturell eher im Liederklampferinnen-Sektor beheimatete Künstlerinnen. Und solche, die viel auf Echtheit und Wahrhaftigkeit setzen – und immer schon zu den Kritiker*innen von blankem Pop gehörten.

Sie haben alle noch nicht an einem ESC teilgenommen, sie wollten dies nicht, weil es ihrem Ruf bei ihren Fans geschadet hätte. Aber über Israel und die politischen Konfliktlagen jenseits der palästinensischen Propaganda wissen sie Bescheid: Das werden ihnen wenigstens einige Fans übelnehmen – und sie weder weiter empfehlen werden noch ihre Lieder spielen.

Sie haben sich als politische Naivlinge, bei allen eventuell guten Gründen, die sie anführen mögen, selbst disqualifiziert. Coughlan, Boine und Black fehlten jedenfalls als prominentere Proteststimmen, als der ESC 2009 in Moskau Station machte oder 2012 in Baku.

In der russischen Haupstadt wurde während des ESC eine LGBTI*-Parade durch Milizen und Polizei zerschlagen, in der aserbaidschanischen Hauptstadt wurden immerhin Menschenrechtsfragen erörtert – aber die Politkarawane der „Israelfrage“-Crowd war das zu wenig, sie entzündet die eigene Leidenschaft am liebsten an geschätzt 1001 nahöstlichen Geschichten: Wahrscheinlich denkt Mari Boine bei Palästinensern, sie litten am gleichen Schicksal wie die von ihr besungenen Sami im Norden Skandinaviens. Und verkennt dabei, dass es im Hinblick auf demokratische Teilhabe und Meinungsfreiheit arabischstämmigen Bürger*innen Israel besser geht als in allen arabisch mehrheitlichen Staaten, etwa Syrien, Jordanien oder Ägypten.

ESC-Verantwortliche lassen sich nicht irritieren

Wer sich an Solidaritäten per Unterschriftsgabe beteiligt, muss mit Liebesentzügen rechnen. So wie dem US-Regisseur Elia Kazan Anfang der fünfziger Jahre das Schicksal ereilte, in Hollywood viele Jahre nicht mehr gelitten zu sein – er hatte vor dem McCarthy-Ausschuss im US-Kongress die Verschwörungsphantasien zur kommunistischen Unterwanderung des US-Filmgeschäfts und der USA überhaupt mit beteiligt: Für viele Liberale und Demokraten war Kazan fortan ein Regisseur, der, trotz aller ästhetischen Brillanz, eine Unperson geworden: Das Werk ist eben doch vom Autor nicht zu trennen. “Viva Zapata“ mit Marlon Brando bleibt dennoch ein großer Film.

Im Hinblick auf den ESC-Boykottwunsch erklärte der ESC-Verantwortliche der ARD Thomas Schreiber am Wochenende: „Heute beginnt das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana, es zählt zu den wichtigsten Feiertagen für Juden in aller Welt. Aus diesem Anlass zum Boykott des Eurovision Song Contest in Israel aufzurufen beziehungsweise die EBU aufzufordern, dem israelischen Rundfunksender Kan das Recht auf die Ausrichtung des ESC zu entziehen, ist durchschaubar. Der israelische Rundfunksender hat das Recht und die Pflicht zur Ausrichtung des Eurovision Song Contest mit dem Sieg Nettas in Lissabon übernommen. Wir freuen uns auf den ESC 2019 in Israel.“

Eine Entscheidung, in welcher israelischen Stadt der ESC 2019 steigen wird und an welchem Maiwochenende genau, wird in den nächsten Tagen erwartet. Die Entscheidung, dass der ESC in Israel organisiert wird, ist längt getroffen. Favorisierte Gastgeberstadt: Tel Aviv.

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