Neapels Bürgermeister über Flüchtlinge: „Selbst Erfahrung mit Leid und Not“

Neapel kommt dem Rettungsschiff „Sea-Watch“ mit einem Appell entgegen. Der städtische Bürgermeister Luigi de Magistris über Italiens Innenpolitik und Solidarität.

Proteste gegen den Besuch Salvinis in Neapel

Proteste gegen den Besuch Salvinis in Neapel im Oktober 2018 Foto: imago/Pacific Press Agency

taz: Herr de Magistris, Sie haben dem auf dem Mittelmeer blockierten NGO-Schiff „Sea-Watch“ angeboten, mit seinen Flüchtlingen an Bord den Hafen von Neapel anzulaufen. Der rechte Innenminister Matteo Salvini kritisiert Sie scharf. Aber wie hat die Stadt reagiert?

Luigi de Magistris: Sehr positiv. Neapel hat eine fest verankerte Tradition der Solidarität. Als im Sommer 2017 ein Schiff mit über 1.000 Migranten an Bord in unseren Hafen einlief, musste die Kommune nach kurzer Zeit ein Kommuniqué veröffentlichen, um die Menschen aufzufordern, nicht mit weiteren Nahrungsmitteln, Medikamenten oder Kleidung zum Hafen zu kommen. Die Menschen hier haben selbst Erfahrung mit Leid und Not. Außerdem ist Nea­pel eine Stadt der Migranten, hier haben die verschiedensten Völker Spuren hinterlassen. Aber ich möchte noch auf einen anderen wichtigen Punkt hinweisen. Wenn Salvini von „geschlossenen Häfen“ spricht, gibt er eine rein politische Erklärung an, die jedoch juristisch keinerlei Wert hat. Der Hafen von Nea­pel ist offen, denn es gibt keinerlei bindende Regierungsverordnung, die seine Schließung verfügt hätte. Eben deshalb wünschen wir so sehr, dass die „Sea-Watch“ Neapel anläuft, denn alle juristischen wie humanitären Voraussetzungen dafür sind gegeben. Dieses Bild von Menschen, die seit nunmehr 15 Tagen den Unbilden auf hoher See ausgesetzt sind, ist für uns völlig unakzeptabel.

Die Stadt Neapel hat auf ihrer Homepage einen Appell veröffentlicht. Bürger können sich dort mit dem Aufnahmeangebot solidarisieren, aber auch eigene mögliche Hilfsleistungen mitteilen. Wie ist die Resonanz?

Wir können von einem überwältigenden Erfolg sprechen. Binnen weniger Stunden haben etwa 10.000 Bürger ihre Solidarität erklärt, Tausende bieten Hilfe an, und wir könnten über 400 Boote verfügen, um die Menschen von der „Sea-Watch“ zu holen, wenn ihr der Zugang zum Hafen verwehrt würde. Hinzu kommen noch Mails ohne Ende, Anrufe, SMS. Da rührt sich kollektiv das Gewissen in einer Weise, wie wir es bisher nicht erlebt haben. Und endlich gibt es einen Riss in dem von der Regierung gezeichneten Bild, dass „die Italiener“ gegen die Migranten seien.

Eben das behauptet Salvini ja: dass er für „die Italiener“ handelt, und Bürgermeistern wie Ihnen rät er, Sie sollten sich endlich um die „echten Probleme“ der Bürger kümmern.

Luigi de Magistris, 51, einst Richter und Staatsanwalt, ist seit 2011 Neapels Bürgermeister.

Gott sei Dank gibt es sehr viele Italiener, die mit Salvini nichts gemein haben. Unser Land wäre am Ende, wenn hier das rassistische, diskriminierende, gewalttätige Denken Salvinis von allen geteilt würde. Das Einwanderungsgesetz, das Ende November verabschiedet wurde, nennt die Regierung „Gesetz für die Sicherheit“. Doch gerade auf dem Feld der Migration wird es unser Land unsicherer machen. Die Regierung sagt zum Beispiel, dass die Migranten zu stark an einzelnen Orten konzentriert sind. Doch jetzt fahren sie die kleinen, kommunal verwalteten Aufnahmeeinrichtungen drastisch zurück, zugunsten großer Lager. Und das Gesetz wird deutlich mehr Menschen in die Illegalität abdrängen, da die Anerkennung von Flüchtlingen erschwert wird – es wird also den Nährboden für mehr Kriminalität bereiten. Das ist die Propaganda dieser Regierung, die ein paar Zehntausend Migranten dafür verantwortlich machen will, dass die Italiener mit ihrer Situation unglücklich sind.

Am Sonntag erklärte der Vizepremier und Chef der Fünf Sterne, Luigi Di Maio, Italien werde nun die Frauen und Kinder von der „Sea-Watch“ aufnehmen. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Für mich ist das ein Fall von politischer Schizophrenie. Am Morgen erklärt Di Maio noch, er sei völlig eins mit Salvini. Nachmittags dann schwenkt er um und spricht von einer „Lektion in Humanität, die wir Europa erteilen“. Eine Regierung, die seit dem 22. Dezember 32 Frauen, Kinder und Personen voller Probleme sich selbst auf dem Meer überlässt, will jetzt „Lektionen in Humanität“ erteilen? Und dann hätte ich auch gerne gewusst,was Di Maio daran human findet, wenn er Kinder von ihren Vätern trennt. Ich hätte gern von ihm gewusst, weshalb Italien nicht imstande sein soll, 32 Personen aufzunehmen.

Als Bürgermeister stehen Sie mit Ihrer Kritik an der Regierung nicht allein. Ihr Kollege Leoluca Orlando aus Palermo hat zum Beispiel seine Verwaltung angewiesen, die Norm des Sicherheitsgesetzes zu ignorieren, dass Flüchtlingen im Anerkennungsverfahren formell von den Kommunen kein Wohnsitz erteilt wird.

Eine solche Anweisung muss ich hier in Neapel gar nicht geben. Normen, die uns verfassungswidrig erscheinen, setzen wir nicht um. Unter Bürgermeistern koordinieren wir unser Vorgehen, das ist mittlerweile eine breite Front. Denn die Regierung betreibt Propaganda, und wir Bürgermeister sollen die Probleme vor Ort dann ausbaden.

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