Verflogen wie Rauch

FAREWELL TRIBUTE Niemand nimmt mehr den Dank entgegen: Abschied von Pina Bausch in Wuppertal. Ihr Tanztheater soll bleiben

Mechthild Großmann liegt lasziv auf dem Rücken und bittet: „Nee, noch nich nach Hause, noch ’n Weinchen, noch ’n Zigarettchen, noch nich nach Hause“

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Spielplan liegt aus, als wäre nichts geschehen. Für den 21. Mai 2010 kündigt er ein „Neues Stück“ von Pina Bausch im Wuppertaler Opernhaus an. Er liegt neben der Gästeliste und den Manuskripten der Reden aus, die Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und Peter Jung, Oberbürgermeister von Wuppertal, gleich auf die Künstlerin und ihre Treue zu Wuppertal, der kleinen Industriestadt, die sie weltweit bekannt gemacht hat, halten werden. „Wir alle vermissen sie“, sagt auch Wim Wenders, der als Freund eine bewegende Rede für alle die hält, die mit Pina Bausch verbunden waren.

Und noch während Wenders in Worte zu fassen versucht, was Pina Bausch, die der Sprache misstraute, am Menschen wahrzunehmen und in Bewegungen und Gesten über ihn zu erzählen vermochte, wie ihre Augen erst möglich machten, in dem alltäglichen Gestus jedes Menschen wie in einem offenen Buch zu lesen, bereitet sich Mechthild Großmann am Bühnenrand auf eine der Bausch-Szenen vor, die man nicht vergessen kann. Weil sie von der Schwere des Abschiednehmens und der Lust am Leben, vom Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach Rausch und der Stimme der Vernunft mit einem unnachahmlichen Humor erzählen, erfunden vor mehr als 20 Jahren. Mechthild Großmann liegt im langen schwarzen Abendkleid auf dem Rücken, die Beine in hochhackigen Schuhen an die Wand hochgelehnt, lasziv, müde, trotzig, Weinflasche und Zigaretten neben sich, und bittet mit ihrer brüchigen Stimme ins Publikum hinein: „Nee, noch nich nach Hause, noch ’n Weinchen, noch ’n Zigarettchen, noch nich nach Hause.“ Und trinkt und raucht und wendet sich der Wand zu und erzählt vor sich hin die Schöpfungsgeschichte, und das kann dauern.

Großmann, die viele Fernsehzuschauer heute vor allem als Staatsanwältin aus dem Münsteraner „Tatort“ kennen, gehört zu den ehemaligen Ensemble-Mitgliedern, die für diesen Nachmittag zurückgekehrt sind an das Wuppertaler Tanztheater. Eingeladen hat die Stadt Wuppertal zu diesem „Abschied von Pina Bausch“ in ebenjenes Opernhaus, in dem sie vor 36 Jahren ihre Form des Tanztheaters zu erarbeiten begann. Dass man sie anfangs hier nicht verstand und heute am Tag des ersten Vorverkaufs lange Schlangen mit Klappstuhl und Thermoskanne schon vor der Kassenöffnung Position beziehen, muss der Oberbürgermeister noch mal erzählen. Er erzählt es auch Tänzern und Choreografen, Theaterdirektoren und Gastspielpartnern aus aller Welt, die das Parkett mit einem englischen und französischen Sprachengewirr füllen. Auch die, die draußen vor dem Opernhaus bei kaltem Wetter einer Übertragung zusehen, hören es gern noch einmal: dass Pina Bausch trotz Angeboten großer Theater das Bleiben in Wuppertal vorzog.

36 Tänzerinnen und Tänzer beteiligen sich an dem „Farewell Tribute“, der „Small Selection“ mit Auszügen aus frühen und späten Stücken, und mit was für Erinnerungen sie getanzt werden, vermag keiner zu ermessen. Der Rauch von Zigaretten zieht sich durch einige Bilder, es qualmt aus den Locken einer Tänzerin, von Kollegen hineingeblasen, als ob ihre innere Hitze sie verglühen ließe, und er steigt unter dem Rock einer anderen hervor, die sich in japanischem Karaoke versucht. Tanzbilder, so flüchtig wie der Rauch, verketten sich miteinander. Seufzerarien, die sich von tiefer Trauer in spitze Lust und wieder zurückverwandeln, tauchen auf und ein im Sitzen getanzter Rock ’n’ Roll des ganzen Ensembles, der den Kick des Rhythmus beibehält, aber um viele Ebenen verschoben.

Mit dabei sind auch Lutz Förster und Dominique Mercy, zwei der ältesten Mitglieder des Tanztheaters, die dem Beirat der im August von Salomon Bausch, dem Sohn der Choreografin, gegründeten „Pina Bausch Stiftung“ angehören. Die will sich um die weitere Aufführung der Werke kümmern. Dass sie sich verpflichtet sehen, dass Wuppertaler Tanztheater und das Werk von Pina Bausch am Leben zu erhalten, betonen in ihren Reden auch die Politiker von Stadt und Land. Der Spielplan 2009/2010 in Wuppertal, die Gastspielreisen werden wie geplant weitergehen.

Aber ein neues Stück von ihr, das wird es nicht mehr geben. Was diese Lücke bedeutet, lässt das Ende der Vorstellung ahnen, als die Gäste fast alle, bis auf jene, die konzentriert mit ihren Taschentüchern beschäftigt sind, applaudieren und applaudieren, minutenlang, vor einer leeren Bühne und niemand mehr herauskommt ins Licht und sich bedankt.