Die Wahrheit: Ein Wettlauf in der DDR

Unvergessene Momente der Sportgeschichte einer kleinen, längst untergegangenen Provinz: der legendäre 800-Meter-Lauf gegen Frank Schöbel.

Wie jede Provinz ihre eigenen Größen und Träume hervorbringt, brachte auch die DDR die ihren hervor. Ich lief dort einmal gegen den berühmten Frank Schöbel, einen Sportler, der zufällig genauso hieß wie ein renommierter Schlagersänger. Vielleicht hieß er in Wirklichkeit Dirk oder Gerd, jedenfalls nannten alle ihn Frank, wie den Schlagersänger.

Es war während meiner Armeezeit. Eine neue Kompanie war zusammengestellt worden an jenem Morgen, mit einem jungen Kompaniechef, der aus meinem Dorf stammte. Ich straffte mich unwillkürlich während seiner Ansprache. Danach gab er das Startsignal zum allmorgendlichen Dauerlauf.

Sonst hatte ich mich immer davor gedrückt, heute aber beschloss ich, mein Bestes zu geben. Nach einer halben Runde hatte ich Frank Schöbel erreicht, und der Spieß machte den Kompaniechef darauf aufmerksam, dass ich Schöbel seine gewohnte Position an der Spitze streitig machte. Schöbel kämpfte erbittert. Er konnte nicht verhindern, dass ich nach 400 Metern vor ihm in die zweite Runde ging, einen halben Schritt.

Inzwischen waren alle anderen stehen geblieben und sahen zu. Schöbel in der ersten Runde zu überholen, war schon manchem gelungen. Ihn aber zweimal hintereinander zu schlagen, noch keinem. Ich lag in den Kurven, dass mein Ohr beinahe den Boden berührte. Und gewann unter Beifall, der Kompaniechef schüttelte mir die Hand.

Leider musste ich der Wiederholung des Laufes am nächsten Morgen fernbleiben, weil ich meinen Sieg bis spät in die Nacht gefeiert hatte. Ich hätte Gelegenheit erhalten sollen, meinen Triumph unter Wettkampfbedingungen zu erneuern, vor allem um den Lästerern das Maul zu stopfen. 800 Meter sei eine allzu merkwürdige Distanz, sagten einige. Ich hätte nur gewinnen können, weil ich Schöbel überrascht habe, sagten andere. Ganz hämische behaupteten sogar, ich hätte die erste Stadionkurve quer über den Rasen abgekürzt. Wir haben das manchmal gemacht, das stimmt. Aber nicht an diesem Morgen.

Bald wurde wegen des täglichen Wettlaufs mit Atomraketen die Wiederholung meines Kampfes vergessen. Als ich aus der Armee entlassen wurde, war er schon eine Legende, die nicht mehr mit meinem Namen verknüpft war. Einmal habe einer Frank Schöbel in einem Schaukampf besiegt, hieß es; aus den 800 Metern waren 10.000 geworden und aus meinem halben Schritt Vorsprung 20. Der siegreiche Läufer sei in den Westen abgeschoben worden, weil er sich weigerte, mit einem Emblem auf dem Bauch zu laufen. Das erzählten sie sich.

Ich ließ sie in ihrem Glauben und ging zurück in mein Heimatdorf. Wenn Frank Schöbel, der Läufer, einmal seine Erinnerungen aufschreibt, wird er womöglich einige Zeilen über jenen Morgen verlieren. Wenn nicht, auch gut. Ich war nie besonders ehrgeizig. Aber wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in dieser Provinz namens DDR festgesessen hätte.

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Aufgewachsen in Gießübel im Thüringer Wald. Militärzeit in Meiningen; danach Öffentlichkeitsarbeiter am Meininger Theater. Studium der Theaterwissenschaft in Leipzig. Insgesamt 15 Jahre Leben in Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg und Karlsruhe in verschiedenen Berufen (u.a. Spanplattenleimverkäufer, Bäumegießer, Telegrammbote und Journalist); ab 1998 Softwareentwickler. Lebt seit 2009 in Joachimsthal (Schorfheide) und betrieb dort von Mai 2016 bis Oktober 2022 das Lyrikhaus. Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien - u.a. mehrfach Jahrbuch der Lyrik (Schöffling). Bücher: jahresringen (Gedichte) mit Zeichnungen von Uta Kühn, Verlag Bullauge, Edition Kuhhaut (2016); Glückscode (Gedichte) mit Zeichnungen von Miguel Ruibal, Corvinus Presse (2021); Das Fingerzeighaus (Gedichte) mit nachgelassenen Zeichnungen von F.W. Bernstein, Bübül Verlag Berlin (2022); Semper (Gedichte) mit Grafiken von Marlen Melzow, fabrik.transit Wien (2023)

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kari

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