Die Wahrheit: Der Zauber der Mangel

Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (7): Vom Vorort und seiner wunderlichen Wunderlosigkeit handelt diese Moritat zwischen Stadt und Land.

Illustration: Rattelschneck

Verständlicherweise weiß nur ein marginaler Teil der Weltbevölkerung, wie es sich anfühlt, wie es riecht oder schmeckt, in einem westdeutschen Vorort aufgewachsen zu sein. Die restlichen unwissenden Milliarden haben einfach nur Schwein oder ein anderweitiges Tier gehabt, woanders aufgewachsen zu sein.

Wunder über Wunder reiht sich in die wundersamen Erinnerungen der Autorin dieser Zeilen an ihre wunderliche Zeit des Aufwachsens in einem Vorort des eitlen Millionendorfs München. Eigentlich komplett wunderlos ist dieses Aufwachsen verlaufen, aber, nein, fad war es dann doch nicht, dies Leben im Vorort. Vorort eben, was sollen wir sagen?

Da war zum Beispiel der Messer- und Scherenschleifer. In regelmäßigen Abständen klingelte er an der – Achtung Vorort! – damals noch nicht abbezahlten Doppelhaushälfte der Eltern, um sein Handwerk feilzubieten. Der Messer- und Scherenschleifer, der einen an jeder Seite jeweils knapp einen ­Meter lang herunterhängenden kohlschwarz-graumelierten Schnurrbart trug, wurde vom Vater bei jedem seiner Besuche auf eine Tasse Nescafé ins Doppelhaus hineingebeten, bevor er sein Werk des Messer- und Scherenschleifens auf der geranienbestandenen Terrasse ausübte. Mutter rollte jedes Mal während des Besuchsvorgangs mit den Augen und seufzte; der Mann mit dem meterlangen Schnurrbart war ihr nicht geheuer.

Der reisende Bofrost-Mann

Sehr geheuer war ihr dagegen der reisende „Bofrost-Mann“, wie der Vater ihn nannte. Auch dieser smarte Dienstleistungsvertreter erhielt einen brühheißen Nescafé am ausziehbaren Esstisch im Wohnzimmer. Für das Studium der einschlägigen Tiefkühlproduktkataloge räumte Mutter die grün geflochtenen Tischsets beiseite; andächtig wurden während der Instantkaffee-Degustation die angebotenen Waren studiert, die der Bofrost-Mann in seinem draußen parkenden Lieferwagen sämtlich mit sich führte. Vater lauschte aus seinem „Arbeitszimmer“ der, trügt die Erinnerung nicht, stets unverfänglich warmherzigen Konversation von Mutter und dem „Bofrost-Mann“ über eiskalte Küche und mehr.

Rahmspinat on the rocks, Flammkuchen on ice und dergleichen vieles wanderte in die nigelnagelneue Gefrierkombination, der Stolz der Doppelhaushälfte. Die Nachbarn in der anderen Hälfte besaßen allerdings nicht nur eine noch leistungsstärkere Gefrierkombination, sondern sage und schreibe auch Stücker zwei Wäschetrockner.

Jene allerdings „kommen uns nicht ins Haus“, hieß es schon einst hälftig umweltbewusst im eigenen Teil der Doppelhaushälfte. Hier wurde täglich im „Heizungskeller“ neben dem „Hobbykeller“ Wäsche mit allzeit brechenden Holz-, später Plastikwäscheklammern aufgehängt.

Anschließend verfrachtete man die getrocknete Wäsche teilweise in einen pistazienfarbenen Plastikwäschekorb und besprühte sie lagenweise mit Wasser aus einem Plastikfläschchen. Den Korb fuhr der Vater dann „in die Mangel“. Die Mangel war im Nachbarort beheimatet, dort ließen die Eltern Bettwäsche und Geschirrtücher mangeln, ein Wunder der Technik, so eine Mangelvorrichtung. Lässt heute noch jemand außer den Eltern mangeln? Es ist zu bezweifeln.

Wo waren wir stehengeblieben? Richtig, im Vorort. Dort soll die kleine Moritat über jenes wundersame Gebilde zwischen Stadt und Land auch zum Ende kommen; dort war und ist immer die Zeit stehengeblieben. Kein Wunder das. Woher wir das wissen? Wir kommen von dort.

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kari

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