Neue Landkarte für China: China zieht seine Grenzen neu

In einer neuen Landkarte reklamiert die Volksrepublik russisches Territorium. Doch Putin muss die Demütigung stillschweigend akzeptieren.

Landkarte China und südchinesisches Meer

Chinesische Landkarte mit neuer Gebietseinteilung im südchinesischen Meer Foto: Andy Wong/ap

PEKING taz | Wahre Freunde halten auch in schlechten Zeiten zusammen, heißt es. Peking jedoch nutzt die derzeitige Lage Moskaus eiskalt aus: In einer neuen Standardkarte markiert die Volksrepublik ihren Anspruch auf über 100 Quadratkilometer russischen Territoriums. Die Insel Bolschoi Ussurijski (auch Heixiazi Dao oder Kragenbär-Insel, Anm. d. Red.) am nordöstlichen Zipfel des Landes erscheint in dem Dokument plötzlich als ganz zu China gehörend.

Bereits Ende August hat das Ministerium für natürliche Ressourcen eine Neuversion der „nationalen Karte Chinas“ herausgegeben. Dabei handelt sich um ein hochoffizielles Dokument, das unter anderem von den Universitäten und Schulen sowie den Medien des Landes verwendet wird. Vor allem aber entlarvt die Karte so unverhohlen wie selten zuvor Chinas expansive Territorialansprüche.

Einige davon sind nicht neu: Dass die demokratisch regierte Insel Taiwan als chinesisch ausgewiesen würde, war zu erwarten. Auch Pekings völkerrechtswidrige Besitzansprüche auf weite Teile des Südchinesischen Meers überraschen nicht weiter. Doch die Behörden gingen diesmal noch einen Schritt weiter: So hat das Ministerium in der neuen Karte auch die 3.500 Kilometer lange Grenze zu Indien deutlich verschoben.

Der Bundesstaat Arunachal Pradesh wurde kurzerhand in Süd-Tibet („Zangnan“) umbenannt, auch die Bergregion Aksai Chin westlich von Tibet ist nun chinesisch eingefärbt. „Wir weisen die Ansprüche zurück, da sie keinerlei Grundlage haben“, heißt es erbost vom indischen Außenministerium.

Sind neue Grenzstreitigkeiten zu erwarten?

Die chinesischen Ansprüche könnten dazu führen, dass der Grenzkonflikt zwischen den zwei Atommächten wieder eskaliert: Erst 2020 kam es im Himalaya zwischen indischen und chinesischen Soldaten zu Gefechten mit mindestens zwei Dutzend Toten.

Denn Russland hat sich seit dem Ukraine-Krieg in eine tiefe Abhängigkeit gegenüber Peking begeben

Der russisch-chinesische Grenzkonflikt hätte vor Jahrzehnten weitaus schlimmer enden können. Im Westen ist der „Zwischenfall am Ussuri“ von 1969 nur wenig bekannt. Doch wie Historiker mittlerweile hinreichend dokumentiert haben, schrammten China und die Sowjetunion damals nur haarscharf an einem Nuklearkonflikt vorbei.

Bei der umstrittenen Insel im Amur-Fluss handelt es sich um ein chinesisches Gebiet, welches erst 1929 im Zuge des sowjetisch-chinesischen Krieges von Moskaus Truppen erobert wurde. 2004 verpflichtete sich Russland schließlich, die westliche Hälfte an China zurückzugeben. Peking hingegen gab damals seine Besitzansprüche an den östlichen Teil der Insel auf.

Moskau ist stark von China abhängig geworden

Nun jedoch scheint die Parteiführung in Peking die Gunst der Stunde nutzen zu wollen. Und die Rechnung geht auf: Der Kreml hat die Demütigung aus Peking bislang still hingenommen, ja hinnehmen müssen.

Denn Russland hat sich seit dem Ukraine-Krieg in eine tiefe Abhängigkeit gegenüber Peking begeben. Wirtschaftlich füllen chinesische Unternehmen jenes Vakuum, welches der westliche Exodus hinterlassen hat: Chinesische Autos fahren auf Moskaus Straßen, auch die Verbraucherelektronik ist zunehmend „Made in China“. Gleichzeitig erhält die Volksrepublik Rekordmengen an russischem Öl zu Rabattpreisen. Keine Frage: Machthaber Xi Jinping lässt sich seine nach außen zelebrierte „grenzenlose Freundschaft“ zu Moskau fürstlich bezahlen.

Als Gegenleistung bietet das Reich der Mitte eine Art Lebensversicherung an: Xi hat zwar durchaus Interesse, seinen nördlichen Nachbarn als politisch loyalen Vasallenstaat an der kurzen Leine zu halten. Doch er wird ebenso dafür sorgen, dass das System Putin weiter stabil bleibt – ein Kollaps der amtierenden Regierung wäre für China das denkbar schlimmste Szenario, schließlich teilt man eine über 4.000 Kilometer lange Landesgrenze.

Keine echte Freundschaft zwischen Peking und Moskau

Wer sich in staatsnahen russischen Kreisen in Peking umhört, vernimmt jedoch längst offenen Unmut. Echte Freundschaft zu China könne es gar nicht geben, sagt etwa eine Quelle. Das Land kenne nur eigene Machtinteressen. Bei den Territorialansprüchen der neuen Landkarte würde es sich keineswegs um einen „versehentlichen“ Fehler handeln, sondern um machtpolitisches Kalkül. Doch Putin müsse dies in der derzeitigen Situation einfach hinunterschlucken.

Es ist jene kühle Machtpolitik Pekings, die auch dafür sorgt, dass die chinesische Regierung in den meisten Nachbarstaaten als Bedrohung wahrgenommen wird. Die japanische Regierung hält mit ihrer Kritik längst nicht mehr hinterm Berg, auch aus den südostasiatischen Staaten gibt es immer wieder erboste Stellungnahmen. Und selbst in der Mongolei, die zu großen Teilen von der chinesischen Wirtschaft abhängig ist, sind die Machthaber in Peking geradezu verhasst.

Territorialstreit – „eine westliche Verschwörung“

In China selbst bekommt die Bevölkerung dank der flächendeckenden Zensur nur wenig von der Fremdwahrnehmung mit. Auch der Territorialstreit mit Moskau wird als westliche Verschwörung abgetan: „Der Grund für den westlichen Hype um die chinesisch-russische Grenzfrage besteht darin, China und Russland dazu zu bringen, sich gegeneinander aufzugreifen. Es ist ein Trick, der in der Vergangenheit häufig angewendet wurde“, lautet etwa ein Posting auf der Online-Plattform Weibo.

Dort kursiert auch ein aktuelles Video, das chinesische Austauschstudenten in der Schweiz zeigt. Als diese auf der China-Karte ihrer Universität die demokratisch regierte Insel Taiwan nicht eingezeichnet fanden, schritten sie kurzerhand mit rotem Filzstift zur patriotischen Tat. Das heimische Online-Publikum goutierte es mit Hunderttausenden Likes.

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