Forscher über Queer Studies: „Queer-Theorie ist transnational“

Ein Band versammelt erstmals Schlüsseltexte der Queer Studies auf Deutsch. Herausgeber Ben Trott über Sexualität und Kapitalismus in queerer Theorie.

Glitzerpailletten und Gürtelschnalle in Regenbogenfarben

Queer-Forschung ist in der deutschen Fachliteratur unterrepräsentiert Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

taz: Der von Ihnen und Mike Laufenberg herausgegebene Band ist eine Intervention in die Rezeption von Queer Theory in Deutschland – und doch heißt er „Queer Studies“. Was ist der Unterschied zwischen Queer Theory und Queer Studies?

ist Gastprofessor am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana-Universität Lüneburg. Dort ist er Sprecher des Center for Critical Studies und Co-Sprecher des Netzwerks Geschlechter- und Diversitätsforschung.

Ben Trott: Queer Studies sind eine wissenschaftliche Disziplin, die weiter gefasst ist als das, was gemeinhin unter „Theory“ verstanden wird. Dazu gehört auch historische oder empirische sozialwissenschaftliche Forschung. Ich denke da zum Beispiel an George Chaunceys Arbeit zu queerem Leben in New York City zwischen 1890 und 1940 oder etwa an die ethnografische Forschung von Esther Newton, die sich unter anderem Drag Queens in Kansas City und Chicago widmet. Dies sind sehr einflussreiche Werke der Queer Studies, die klassischerweise nicht als „Theorie“ verstanden werden würden. Judith Butlers Konzept der Gender-Performativität baut übrigens explizit auf Newtons Arbeit zu Drag auf.

Sie erwähnen Judith Butler, die normalerweise als Ikone der Gender Studies betrachtet wird. Sind Queer Studies eine Unterkategorie der Gender Studies oder was ganz eigenes?

Das lässt sich so oder so sehen. Butlers „Gender Trouble“ und Eve Kosofsky Sedgwicks „Epistemology of the Closet“ sind die zwei Klassiker und Gründungstexte der Queer Studies. Leider ist noch keins von Sedgwicks Büchern vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Sie war Feministin, aber sie beschreibt ihr Buch eher als sexualitätszentriert denn als Gender-zentriert und somit versteht sie es tendenziell eher als einen Beitrag zu den Sexuality Studies oder Gay and Lesbian Studies als zu den Gender Studies. Diese Unterscheidung war aber nicht unumstritten. So widersteht Butlers Arbeit etwa einer analytischen Trennung von Gender und Sexualität.

Ihr Buch ist ein Versuch diese Lücke zu schließen. Beinah alle Texte im Band sind Erst­übersetzungen. Was fehlte ohne sie bisher im deutschen Diskurs?

Viele der Au­to­r*in­nen sind hier in Deutschland bekannt, aber trotzdem sind einige ihrer wichtigsten theoretischen Beiträge nicht auf Deutsch zugänglich. Nicht mal Judith Butlers ganzes Werk ist bisher übersetzt. Es fehlten beispielsweise bis jetzt viele wichtige Arbeiten der Queer-of-Color-Kritik. In den Disability Studies ist Robert McRuers „Zwangsabilität und queere/behinderte Existenz“ ein einflussreicher queerer Text. Auch dieser ist bisher nicht auf Deutsch erschienen.

Mike Laufenberg/Ben Trott (Hg.): „Queer Studies. Schlüsseltexte“. Aus dem Englischen von T. Atzert und Z. Wackwitz. Suhrkamp, Berlin 2023, 576 S., 28 Euro

Wir wollten aber nicht nur Lücken füllen, sondern auch zeigen, dass die innovative Arbeit, die in den letzten 30 Jahren in den Queer Studies geleistet wurde, das ganze Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften beeinflusst hat – auch Bereiche, die nicht direkt mit Fragen von Geschlecht und Sexualität zu tun haben. Queere Arbeiten etwa von Sara Ahmed oder Ann Cvetkovich haben beispielsweise das Feld der Affect Studies stark geprägt. Der Sammelband enthält ebenfalls einen Beitrag von Cvetkovich.

Die Übersetzungslücken erklären aber die teils verzerrte Wahrnehmung der Queer-Theorie, wie etwa die Annahme mancher Menschen, dass es sich dabei nur um eine poststrukturalistische, dekonstruktive oder vielleicht psychoanalytische Auseinandersetzung mit Geschlecht handelt. Nur wenige der Texte, die zeigen, wie die Queer Studies sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend materialistisch orientieren, sind bis dato übersetzt worden.

Queer-Theorie und Materialismus gelten gemeinhin als unversöhnliche Gegensätze. Hier Klassenverhältnisse und staubbedeckte Kumpel, dort irgendwas mit Sprache und Ak­ti­vis­t*in­nen mit blauen Haaren. Wie überbrücken Den­ke­r*in­nen diesen Graben?

Dieser Eindruck einer Unvereinbarkeit rührt teils daher, dass die vermehrte Beschäftigung mit queeren Themen in akademischen Settings zeitlich mit dem sogenannten „Ende der Geschichte“ zusammenfiel, als viele Aka­de­mi­ke­r*in­nen nach Werkzeugen der Kritik suchten, als marxistische oder materialistische Ansätze, sagen wir, nicht besonders en vogue waren. Ihre Fragestellungen drehten sich anfangs weniger um eine Kritik der politischen Ökonomie. In der Anfangszeit um das Jahr 1990 gab es in der Tat einen viel stärkeren Fokus auf die Dekonstruktion des Textuellen.

Aber ab den späten 1990er Jahren und mehr noch nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 bezogen sich immer mehr queere Theorien auf den historischen Materialismus. Die Queer-of-Color-Kritik wie sie von Roderick A. Ferguson und anderen vertreten wird, ist hier nur ein Beispiel. In Fergusons Arbeit bestehen interessante Echos und Überschneidungen mit Schwarzen marxistischen Analysen zu racial capitalism sowie mit materialistischen Arbeiten aus den British Cultural Studies – dazu zählen etwa die Versuche von Stuart Hall die Art und Weise zu verstehen, wie unterschiedliche Phänomene – Gender, Sexualität, Rassismus – sich gemeinsam innerhalb einer politischen Ökonomie „artikulieren“.

Diese Marxisten würden wahrscheinlich argumentieren, dass sich Materialismus um Klasse und damit einen Widerspruch dreht, während sich Queer Studies nur mit Differenz und skurrilen Minderheiten beschäftigen und darum eher nebensächlich sind.

Ich sehe nicht, wie sich eine überzeugende Gesellschaftstheorie – und vor allem eine materialistische – entwickeln lässt, die nicht ernsthaft berücksichtigt, dass ein Großteil dieser Gesellschaft um Geschlecht und Sexualität organisiert ist. Wenn wir uns die Familie, die Institutionen der Heterosexualität oder die geschlechtliche Arbeitsteilung vor Augen führen, dann sehen wir, dass die Art und Weise, wie Verhältnisse von Geschlecht und Sexualität in bestimmten historischen Momenten organisiert sind, zu einem großen Teil mit der Art und Weise der Kapitalakkumulation zusammenhängen. Die geschlechtliche Arbeitsteilung und die rechtliche Regelung darüber, was als Familie gelten darf, sind anders im sogenannten Postfordismus als noch im Zeitalter der fordistischen industriellen Massenproduktion.

In den letzten Jahren sind viele Ideen und Begriffe aus der Queer-Theorie populär geworden. In Neukölln oder der Sternschanze beschreiben Menschen ihr Liebesleben mit Begriffen, die aus höchst abstrakten Werken der Queer Theory entlehnt sind. Im Forum des queeren Techno-Festivals Whole debattierte man diesen Sommer sehr lebhaft und mit Theorie-Begriffen um sich werfend alles Mögliche von männlichem Verhalten auf der Tanzfläche bis zur Idee der Queer Community. Verliert Queer Theory damit an Präzision, oder gewinnt sie etwas?

Es ist doch super, wenn Menschen Begriffe oder ein Vokabular finden, um über sich selbst und unser Zusammenleben nachzudenken. Es hat schon immer einen Austausch von Ideen und Sprache zwischen aktivistischen Kreisen, Wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Subkulturen gegeben. Butler hat immer klargemacht, dass auch „Gender Trouble“ kein Produkt eines rein wissenschaftlichen Unternehmens war, sondern auch durch die aktive Teilnahme an sozialen Bewegungen und queeren Subkulturen entstanden ist.

Kul­tur­pro­du­zen­t*in­nen – auch in queeren Subkulturen – setzen sich schon lange mit queeren und anderen wissenschaftlichen Theorien auseinander, und entwickeln daraus immer wieder auch andere Dinge. Aber kulturelle Produktion – auch in subkulturellen Räumen wie queeren Clubs und Festivals – prägen im Gegenzug ebenfalls die Queer-Theorie. Der Text von José Esteban Muñoz zur Queer-of-Color-Performance ist hier ganz explizit: Für ihn kann es keine Theorie geben, wenn nicht die Performance zuerst kommt.

Es gibt eine große Tradition queerer Theorie aus Europa, man denke an Monique Wittig, Guy Hocquenghem oder Mario Mieli, um ältere Beispiele zu nennen, in den letzten Jahren etwa Paul Preciado oder Didier Eribon. Doch in dem Sammelband sind nur Texte von amerikanischen oder in den USA ausgebildeten Au­to­r*in­nen zu finden. Ist dieser Fokus auf die USA nicht etwas eng?

Es fehlen in der Tat viele Übersetzungen von europäischen, aber auch nichteuropäischen Theoretiker*innen, obwohl es glücklicherweise immer mehr Übersetzungen von Wittig, Hocquenghem und Eribon gibt. Übersetzungen von Preciados Texten gibt es schon länger. In den anglophonen Queer Studies gibt es zugegebenermaßen eine gewisse Provinzialität, die US-amerikanische Kultur und Politik oftmals als ihr unausgesprochenes Objekt voraussetzt.

Dennoch ist dies ist nicht immer der Fall. Das Buch schließt mit einem Text von Petrus Liu über die Bedeutung der Trennung der Volksrepublik China und Republik China auf Taiwan für das queere Leben in beiden Chinas. Dabei zeigt er auf, wie Queer-Theorie eine transnationale und transkulturelle Praxis ist. Er bezieht sich sowohl auf chinesische als auch andere nichtanglophone akademische Traditionen. Es bedarf aber tatsächlich einer globaleren Form der Queer Studies.

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