Kampagne gegen sexuellen Missbrauch: Kinder sprechen nicht über Gewalt

Missbrauchsbeauftragte Claus und Familienministerin Paus wollen mit einer Kampagne gegen Missbrauch vorgehen. Ihr Appell: Erwachsene, seid wachsam.

Lisa Paus und Kerstin Claus mit Plakaten

Lisa Paus und Kerstin Claus bei der Vorstellung der Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg“ Foto: Melissa Erichsen/dpa

BERLIN taz | Es mutet wie eine bittere Koinzidenz an: Der einstige finnische Modeunternehmer Peter Nygard wurde am Sonntag in Toronto von einem Gericht wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen. Einige Opfer waren zur Zeit der Taten – zwischen den 1980er Jahren und 2005 – minderjährig. Das Strafmaß soll in einer Woche verkündet werden, kurz nach dem Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch am 18. November.

Diese Tage nutzen die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), um mit einer großangelegten Kampagne gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Die Zahl betroffener Kinder ist hoch: Dem Bundeskriminalamt zufolge wurden im vergangenen Jahr 17.000 Kinder unter 14 Jahren Opfer von sexueller Gewalt, jedes siebte Kind davon war nicht einmal sechs Jahre alt.

Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sind in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder betroffen – trotz aller Aufklärungskampagnen, wissenschaftlicher Untersuchungen und Präventionsprogrammen, die es seit dem Bekanntwerden des massenhaften Missbrauchs in der katholischen Kirche 2010 gibt.

„Schieb deine Verantwortung nicht weg“, so der Titel der Kampagne, richtet sich insbesondere an Erwachsene: Lehrer:innen, Trainer:innen, Nachbarn, Familienangehörige sollen genauer hinhören, wenn sie bei einem Kind „ein komisches Gefühl oder einen konkreten Verdacht haben“, sagte Claus am Montag, als sie gemeinsam mit Paus in Berlin die mehrjährige Aktion vorstellte. Denn Kinder, so Claus weiter, sprechen nicht über die Gewalt, die sie erfahren. Häufig gibt es keine körperlichen Spuren, so dass der Missbrauch selbst von Me­di­zi­ne­r:in­nen leicht übersehen werden kann.

75 Prozent der Fälle passieren im nahen Umfeld

Die Sensibilität der Bevölkerung gegenüber sexueller Gewalt an Kindern ist seit dem Bekanntwerden des systematischen Missbrauchs in der Kirche und in anderen Einrichtungen dennoch gestiegen. So wissen mittlerweile die meisten Menschen, worum es sich dabei handelt. Allerdings glauben sie, die Übergriffe würden von Unbekannten verübt, zum Beispiel auf dem Spielplatz, im Wald, im Freibad. Das ist ein Trugschluss. Untersuchungen zufolge passieren 75 Prozent der Fälle im sogenannten Nahfeld der Kinder, vor allem in der Familie, aber eben auch in Kirchengruppen und Sportvereinen.

Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage glauben indes 85 Prozent der Erwachsenen, dass in ihrem Umfeld Missbrauch auf keinen Fall stattfinde, erst recht nicht in der eigenen Familie. „Ich fordere jede und jeden auf: Sehen Sie hin, hören Sie zu, fragen Sie beim Kind nach“, forderte die Grünen-Familienministerin: „Ein aufgeklärtes, wachsames Umfeld schützt Kinder und Jugendliche viel besser vor Gewalt.“

Claus und Paus verfolgen mit der Kampagne neben Aufklärung und Appell ein weiteres Ziel: Jede Kommune sollte sich in naher Zukunft als „sichere Kommune darstellen“. Demnach sollten kommunale Sportvereine, Kitas oder Musikschulen mit einem Gütesiegel versichern, dass ihre Einrichtung ein Schutzkonzept gegen Missbrauch habe. Eltern könnten ihre Kinder dann beruhigt dort hinbringen. Paus kündigte zudem an, das Amt der Missbrauchsbeauftragten sowie eine Berichtspflicht bei der Missbrauchsaufarbeitung in Deutschland gesetzlich zu verankern. Auch soll das Netz von Beratungsstellen, das ausgesprochen prekär ist, ausgebaut werden.

Um Licht ins Dunkelfeld zu bringen, schwebt Claus ein Zentrum für Prävalenzforschung vor, dazu sei sie bereits mit der Kultusministerkonferenz im Gespräch. In diesem Rahmen plane sie, mit Schü­le­r:in­nen der 9. Klassen ins Gespräch zu kommen. „Nur so erfahren wir, wie hoch die Zahl Betroffener tatsächlich ist“, sagte Claus. Das sei zudem wichtig für die Erforschung des Missbrauchs im digitalen Raum.

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