Palästinenserin und Jude über den Krieg: „Frieden ist möglich und nötig“

Gibt es einen Ausweg aus dem Nahostkrieg? Ja, sagen die Palästinenserin Rula Daood und der Jude Alon-Lee Green von der Bewegung Standing Together.

Rula Daood und Alon-Lee Green von Standing Together sitzen gemeinsam an einem Tisch

„Unsere Menschlichkeit steht auf dem Spiel“: Rula Daood und Alon-Lee Green von Standing Together Foto: Doro Zinn

wochentaz: Frau Daood, Herr Green, Ihre palästinensisch-jüdische Bewegung „Standing Together“ setzt sich in Israel für Frieden ein. Ist das mitten in einem solchen Krieg überhaupt möglich?

Rula Daood, 38, ist Co-Direktorin von Standing Together. Daood ist Logopädin und stammt aus Kufr Jasif in Galiläa.

Alon-Lee Green, 36, ist Co-Direktor und Gründungs­mitglied von Standing Together. Schon bei den Sozial­protesten in Israel 2011 spielte Green eine führende Rolle.

Alon-Lee Green: Es ist natürlich schwieriger geworden. Aber eine Krise diesen Ausmaßes ist auch ein Moment der Klarheit: Wir haben verstanden, dass dies unsere Lebensaufgabe ist. Wir haben uns noch nie sicher gefühlt in unserem Land.

Was meinen Sie damit?

Green: Ich wurde zwei Tage nach dem Beginn der ersten Intifada geboren. Ich hatte meine Bar Mitzwa während der zweiten Intifada. Mein Bruder und ich durften als Kinder wegen der Gefahr von Attentaten nicht Bus fahren, wir sind stattdessen 25 Minuten zur Schule gelaufen. Das ist nicht normal. In den letzten anderthalb Jahrzehnten dann folgte Krieg auf Krieg auf Krieg, und das Ergebnis war immer das gleiche: unzählige Tote, und mehr und mehr Hass auf beiden Seiten. Aber keine Sicherheit, für niemanden. So kann es nicht weitergehen.

Die jüdisch-palästinensische Graswurzelbewegung mobilisiert in Israel seit 2016 für Frieden, Gleichheit, soziale und Klimagerechtigkeit. Die Di­rek­to­r:in­nen von Standing Together waren kürzlich zu Gast im taz Talk. Eine Aufzeichnung des Gesprächs ist zu finden auf taz.de/standingtogether

Rula Daood: Wir alle sind am 7. Oktober vom Dröhnen der Sirenen aufgewacht. Ich habe an diesem Tag stundenlang versucht, eine Freundin zu erreichen, die auf das von der Hamas angegriffene Festival in der Wüste wollte. Eine Palästinenserin. Sie ging nicht ans Telefon. Irgendwann hat sie doch geantwortet, und ich war so erleichtert zu hören, dass sie nicht gefahren war. Diese Tage waren traumatisierend für uns alle. Auch wir als Aktivisten waren paralysiert. Aber dann wurde uns klar: Unsere Arbeit ist wichtiger denn je.

Sie sind als palästinensische Bürgerin Israels doppelt betroffen.

Daood: Ja, zwei Tage nach dem 7. Oktober kamen die Bilder aus Gaza dazu: Tote Kinder, Mütter, die ihre Babys im Arm halten – und ich hatte in Israel keinen Raum, das zu betrauern. Diese Räume haben wir mit Standing Together dann selbst geschaffen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Daood: Wir bringen die zusammen, die einen anderen Weg gehen wollen. Die verstehen, dass man die Hamas nicht zerstören kann, indem man Gaza in Grund und Boden bombt. Wir haben Kundgebungen organisiert, auf der Menschen ihrer Angst und ihrem Schmerz Raum geben konnten, Juden wie Palästinenser. Wir wollen zeigen, dass man Dinge zusammen erreichen kann. Wir haben zum Beispiel in gemischten Teams öffentliche Luftschutzräume aufgeräumt und ausgestattet, und wir haben eine Hotline eingerichtet für Menschen, die Rechtsberatung brauchen. Denn dieser Tage verlieren Menschen ihren Job oder werden verhaftet, wenn sie lediglich das Leid der Menschen in Gaza benennen.

Welche Reaktionen erleben Sie auf Ihre Arbeit?

Green: Natürlich werden wir auch angefeindet. Für die israelische Rechte ist es schon Verrat, über Frieden nur laut zu sprechen. Aber wir stehen hier an einem Scheideweg. Und mein Gefühl ist: Immer mehr Menschen in Israel verstehen gerade, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Es ist auch eine Chance.

Daood: Standing Together hat so viel Zulauf wie noch nie. Die Zahl unserer Aktivisten hat sich seit dem 7. Oktober verdoppelt. Vor allem junge Palästinenser kommen gerade neu zur Bewegung.

Wann haben Sie Standing Together gegründet?

Green: Das war 2016, während der sogenannten Messer­intifada. Damals eskalierte die Gewalt innerhalb Israels. Keine der Parteien hatte den Menschen eine echte Alternative zu bieten, und gerade die linken Parteien konnten schon lange nicht mehr die Massen mobilisieren. Es gab eine Lücke zu füllen.

Warum haben Sie dann keine Partei gegründet?

Daood: Um die Realität zu ändern, müssen die Menschen ihre Perspektive verändern. Das geht nicht von oben. Als Graswurzelbewegung verstehen wir es als unsere Aufgabe, von unten zu wirken. Wir müssen den Menschen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt als den, den Premierminister Netanjahu seit Jahren als den einzig möglichen vorgibt. Dass Frieden möglich und nötig ist.

Standing Together fordert einen Waffenstillstand. Gleichzeitig beschießt die Hamas weiterhin Israel und hat klar gemacht: Sie wird das Land wieder und wieder angreifen, bis es vernichtet ist. Muss Israel sich da nicht verteidigen?

Green: Natürlich muss ein Land seine Bürger verteidigen. So sehr ich gegen diesen Krieg bin: Am 7. Oktober hätte ich sofort eine Uniform angelegt, eine Waffe in die Hand genommen und versucht, die Menschen im Süden vor den Terroristen zu schützen, die ins Land eingedrungen sind. Aber was bringt das, was wir seither tun? Kann man die Hamas vernichten, indem man in Gaza Hunderte Menschen mit einem einzigen Luftangriff tötet? Was ist die Idee für den Tag nach den Kämpfen? Die Hamas existiert nicht nur in Gaza, und sie ist nicht nur eine Terrororganisation. Die Hamas ist eine Idee. Und am Ende des Tages wird Israel sie durch dieses Blutvergießen nur stärken.

Daood: Wir, und damit meine ich die Menschen in Israel und Palästina, müssen verstehen: Unsere Schicksale sind miteinander verwoben. Es wird keine Sicherheit für die Israelis geben ohne Befreiung der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen. Es wird aber auch keine Befreiung der Palästinenser geben ohne Sicherheit für Israel. Auf diesem Land leben Millionen Palästinenser und Millionen Juden, und egal was manche sich vorstellen: Sie werden bleiben. Das ist unser aller Zuhause. Und wir kämpfen dafür, dass alle Menschen hier in Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit leben können.

Und was muss aus Ihrer Sicht jetzt passieren?

Green: Wir müssen so viele Leben retten wie möglich. Das heißt: die Geiseln nach Hause bringen und das Blutvergießen beenden. In diesem Krieg verlieren wir alle. Israel konnte mit militärischen Mitteln in über 50 Tagen eine einzige Geisel befreien – zum Preis Tausender toter Zivilisten. Aber in rund einer Woche Waffenstillstand wurden über 100 Geiseln befreit. Wir müssen zurück an den Verhandlungstisch. Der Kurs der israelischen Regierung aber ist genau das Gegenteil. Unsere Minister erzählen, es gäbe in Gaza keine unschuldigen Zivilisten, dass die Kinder von heute die Terroristen von morgen sind. Israel ist im Krieg, aber wir als Gesellschaft sind es auch.

Wie meinen Sie das?

Green: Auf dem Spiel steht nicht weniger als unsere Menschlichkeit. Wenn wir die verlieren, dann verlieren wir auf Generationen die Möglichkeit, hier ein normales Leben aufzubauen – auf beiden Seiten.

Wie haben Sie die interna­tio­nalen Reaktionen auf den 7. Oktober wahrgenommen?

Daood: Ich war enttäuscht. Die internationale Gemeinschaft hat sich so radikalisiert, seien es Regierungen oder die Zivilgesellschaften. Jeder stellt sich auf eine Seite, entweder Pro-Israel oder Pro-Palästina. Aber das hat mit unserer Realität und unseren Zielen wenig zu tun. Wir sehen nicht Seiten, wir sehen Menschen. Es ist einfach, in Berlin oder London zu sitzen und sich für palästinensische Befreiung auszusprechen.

Was erwarten Sie stattdessen?

Daood: Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, wir wollen, dass Druck auf die israelische Regierung gemacht wird. Aber wir wollen auch, dass die Menschen die Realität hier vor Ort anerkennen. Wenn wir es schaffen, mitten im Krieg diese Komplexität anzuerkennen und die Menschen auf der anderen Seite zu sehen – dann erwarten wir, dass andere das auch schaffen.

Es gibt Menschen, die haben die Verbrechen der Hamas als legitimen Widerstand bezeichnet, mitunter sogar gefeiert.

Daood: Ja, und ich bin so wütend auf diese Menschen. Was die Hamas getan hat, ist unverzeihlich. Das sage ich als Palästinenserin auch, weil dieses schreckliche Massaker dem palästinensischen Kampf schadet. Meine Unabhängigkeit und die meines Volkes wird nicht auf den Leichen junger Menschen und in den Gazastreifen verschleppten Mädchen aufbauen.

Green: Auch die Reak­tio­nen mancher internationaler Linker haben uns entsetzt. Unschuldige Menschen werden umgebracht, und Menschen sagen dazu ernsthaft: „Gaza breaks free“, oder: „Was dachtet ihr, wie Dekolonisierung aussieht?“ Sind das wirklich die Werte, für die wir stehen? All diese Begriffe wie Siedlerkolonialismus verschleiern, dass in Israel Menschen leben. Ja, wir haben die rechteste Regierung in der israelischen Geschichte. Aber wir sind nicht identisch mit ihr, wir haben monatelang gegen diese Regierung protestiert. Ich bin gegen die Besatzung, aber ich bin auch Israeli. Soll ich mich vor einen Hamas-Terroristen stellen und sagen: Bitte erschieß mich, ich bin ein Kolonialist? Fakt ist, dass wir alle auf diesem Land leben, und dass wir eine gemeinsame Lösung finden müssen. Wenn du dazu nicht beitragen kannst, sondern nur interessante, aber völlig realitätsferne Essays über große Begriffe schreiben möchtest: Dann tritt bitte zur Seite, du hilfst uns nicht.

Daood: Wir wollen, dass die Menschen im West­jor­dan­land frei sind von Besatzung und Gaza nicht mehr militärisch abgeriegelt wird. Wir wollen, dass palästinensische Staatsbürger Israels die gleichen Rechte haben wie jüdische. Und deswegen finden wir gut, dass hier in Deutschland und überall Menschen dafür auf die Straße gehen. Wir wollen aber auch Sicherheit für die jüdischen Menschen in Israel. Deswegen bitte, wenn ihr hier eure Stimme erhebt: Erhebt sie für uns alle. Wir alle, Juden und Palästinenser, verdienen ein Leben in Freiheit und Sicherheit.

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