Krieg in der Ukraine: Die Ukraine nicht im Stich lassen

Die militärische Lage ist bitterernst für die Ukraine. Das geschundene Land braucht weiter Hilfe aus dem Westen – wie einst versprochen.

Ein Portrait von Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.

Präsident Wolodimir Selenski sieht sich immer öfter mit Vorwürfen konfrontiert Foto: ukrainian presidentia/planet pix/ZUMA/dpa

In der Ukraine werden die Menschen die Weihnachtsfeiertage zum zweiten Mal im Hagel russischer Bomben begehen. Vielerorts werden dieses Mal auf öffentlichen Plätzen keine Weihnachtsbäume aufgestellt – ein Symbol dafür, dass es nichts zu feiern gibt. Zwar spricht sich, laut jüngsten Umfragen, immer noch eine deutliche Mehrheit der Ukrai­ne­r*in­nen für eine Fortsetzung des Krieges gegen den Aggressor Russland aus. Eine Kapitulation zu Moskaus Bedingungen ist keine Option. Doch dieser Umstand vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Stimmung kippen könnte.

Aus gutem Grund: Die Situation an der Front ist desolat. Die ukrainische Gegenoffensive, die mit immensen Verlusten in den Reihen der eigenen Armee einhergeht, ist bislang deutlich hinter den von Anfang an zu hoch gesteckten Erwartungen zurückgeblieben. Längst hat die Phase eines zermürbenden Stellungskrieges begonnen, in dem beide Seiten keine nennenswerten Geländegewinne zu erzielen imstande sind.

Hinzu kommt, dass die ausbleibenden militärischen Erfolge Kyjiws und mögliche Gründe dafür immer häufiger zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen werden. Präsident Wolodimir Selenski, zeitweilig schon fast in eine Art Heldenstatus erhoben, sieht sich mit massiven Anwürfen konfrontiert – kommen sie nun vom Oberkommandierenden der Streitkräfte Walerij Saluschnyj oder Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko.

Dieser Schlagabtausch in Zeiten eines existenzbedrohenden Krieges und öffentlich ausgetragen – normalerweise gilt das ungeschriebene Gesetz: abgerechnet wird hinterher – ist bemerkenswert. Zwar ist er wohl zuallererst Ausdruck der verzweifelten Gesamtlage, aber gleichzeitig ein Indiz dafür, welche Strecke die Ukraine auf ihrem Weg einer demokratischen Transformation bereits zurückgelegt hat.

Der öffentliche Schlagabtausch mit Selenski zeigt, wie weit sich die Demokratie in der Ukraine bereits entwickelt hat

Wahr ist jedoch auch: Wladimir Putin, bekanntermaßen in historischer Mission im „Kampf gegen­ den Faschismus“ unterwegs, reibt sich die Hände. Mit Zustimmungswerten von über 80 Prozent im Rücken – und das knapp drei Monate vor der Präsidentschaftswahl – scheint Russlands Staatschef vor Kraft kaum laufen zu können. „Menschenmaterial“, das an die Front und in den Tod geschickt werden kann, scheint noch ausreichend vorhanden. Die westlichen Sanktionen gegen Russland erzielen nicht den gewünschten Effekt, was wohl kaum nur mit deren erfolgreicher Umgehung dank der Hilfe einiger befreundeter Staaten zu erklären ist.

Die Wirtschaft des Landes scheint nicht merklich geschwächt. Die Hoffnung, zumindest Teile der russischen Zivilgesellschaft zu mobilisieren und gegen den Krieg auf die Straßen zu bringen, kann ebenfalls ad acta gelegt werden. Dem angeblich international isolierten Paria Putin wird der rote Teppich ausgerollt – so jüngst geschehen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Mit Genugtuung dürfte Putin eine weitere Entwicklung zur Kenntnis nehmen: Die Unterstützung der westlichen Verbündeten der Ukraine bröckelt. As long as it takes – war da mal was?

Orbán droht

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán droht mit einem Veto, sollten die geplanten 50 Milliarden Euro Finanzhilfe für die Ukraine und deren EU-Beitritt beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel kommende Woche nicht von der Tagesordnung genommen werden. Die neue slowakische Regierung unter Robert Fico hat Waffenlieferungen an Kyjiw gestoppt.

SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht Deutschland zwar weiterhin fest an der Seite der Ukraine, räumt jedoch ein, dass die Rüstungsindustrie nicht mit der Produktion hinterherkomme. Last but not least: Das US-Engagement für das geschundene Land steht auf der Kippe, weil die Republikaner im Kongress ein Hilfspaket in Milliardenhöhe blockieren und so die Ukraine im Kampf um die Durchsetzung eigener innenpolitischer Interessen in Geiselhaft nehmen.

Moskaus Ziel hat sich nicht geändert

Sollten die US-Republikaner ihren Widerstand nicht aufgeben und Washington als wichtigster Unterstützer ausfallen, käme das für Kyjiw einer Katastrophe gleich. Denn an Moskaus Ziel, die Ukrai­ne als Staat samt ihrer Identität ein für alle Mal auszulöschen, hat sich nichts geändert. Die Mittel dafür sind Folter, Tod, Verschleppung und Zwangsdeportationen – ein Blick in die russisch besetzten Gebiete genügt.

Die Ukraine im Stich zu lassen hieße, sie der genozidalen Politik des Kreml schutzlos auszuliefern – mit allen Konsequenzen. Doch damit hört es nicht auf. Wer sind die Nächsten? Georgien, die Republik Moldau oder gar die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland? Die Fragen sind keine abstrakten Gedankenspiele, sondern könnten eines Tages bittere Realität werden. Frohes neues Jahr. Von wegen.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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