Knallerei und Krieg: Mäuse im Altersheim zu Silvester

Jedes Jahr gleichen die Städte Kriegsschauplätzen. Da könnten doch gleich reale Kriegsgeräusche abgespielt werden – aber bitte am Stadtrand.

Impressionen aus der Silvesternacht

Wird auf der Welt nicht schon genug geschossen und gebombt? Foto: Marius Schwarz

Ausstieg aus dem U-Bahn-Schacht, halb drei in der Silvesternacht. Eine eher ruhige Gegend in Berlin, aber oben herrscht noch eine Art Krieg. Zwei Männer schießen Leuchtspurmunition auf Balkone. Die Feuerwehr löscht an einer Kreuzung einen Brand mitten auf der Straße. An der nächsten Kreuzung sind Männer mit sicherlich nicht zugelassenen Böllern zugange, selbst mit Ohropax in den Ohren sind die Explosionen ohrenbetäubend.

Komisch, warum ist es eigentlich immer das Bevölkerungssegment „(sehr) junger Mann“, das an Silvester die Sau rauslässt? Warum kann man nicht mal, allein schon für den immer erfrischenden Klischee- und Routinebruch, zum Beispiel älteren Frauen das öffentliche Feld an Silvester überlassen?

Zivildienst in einem Altenheim bei Hamburg, vor vielen Jahren, Nachtschicht zu Silvester: Eine Bewohnerin bittet mich in ihr Zimmer, sie hat Angst und will nicht allein sein. Die Knallerei erinnere sie an die Hamburger Bombennächte von 1943, wie sie erzählt. Ich rea­giere verstört und verlegen (wenn ich mich recht erinnere), habe ich doch die Jugendjahre zuvor gern geböllert. Sie erzählt von Nächten im Luftschutzkeller und glaslosen Fenstern ihrer Wohnung nach der Rückkehr. Durch die Druckwellen der Bomben war das Glas zerborsten. Zum Glück war es Juli, damals in Hamburg. Wir trinken Kräuterlikör und essen Lebkuchen, ich gehe um eins.

Im Personalraum sitzt das Personal mit einigen Bewohnerinnen zusammen, mittendrin knutscht der Zivi-Kollege inzwischen mit einer der Pflegerinnen. Eine herrliche Stimmung – der Chef ist längst weg, die Mäuse tanzen auf dem Tisch. Pflegeheime (wie sie inzwischen heißen) sind besonders zu Silvester Parallelwelten: Traurige, berührende und schöne Momente liegen nah beieinander, während draußen Billigsekt aus Plastikbechern getrunken und mal mehr, mal weniger affektiert das neue Jahr begrüßt wird.

Junge Männer in Gewerbegebieten

Für den besagten Klischeebruch plädiere ich dafür, ab sofort an Silvester an den zentralen Plätzen der Republik für die Alten riesige beheizte Festzelte aufzustellen. Es gibt gutes Essen und Wein, dazu ein tolles Entertainment-Programm mit Varieté und Livemusik, meinetwegen auch Schlager. Für die jungen und sehr jungen Männer sind separate Zonen in den Gewerbegebieten am Rand der Städte ausgewiesen, wo sie aus leistungsfähigen Konzertboxen aktuellen Kriegsgeräuschen zuhören können.

Das wären praktische Synergieffekte und Effizienzgewinne in Sparzeiten, denn warum werden hier eigentlich Millionen Euro verballert, während woanders auf der Welt derzeit genug geschossen und gebombt wird? (Es müsste mal eine Studie darüber geben, warum eigentlich bundesdeutsche „Sparkurse“ immer einhergehen mit Kriegen; die Agenda 2010 und der Irakkrieg fielen auch zeitlich zusammen.)

Für die Postkolonialismus-Studenten und Hamas-Rechtfertiger lädt der Audiobereich „Qassam-Rakete“ zum Verweilen ein, unterbrochen von Greta-Thunberg-Reden und vorgelesenen Judith-Butler-Aufsätzen. In sicherer Entfernung kann dem Audio-File „Sturmgewehr TAR 21, israelische Armee“ gelauscht werden.

Themenbereich Ukrainekrieg

An einer anderen Ecke der Stadt hat der Themenbereich „Ukraine­krieg“ seine Pforten geöffnet. Stargäste im Sektor „Ukraine“ sind Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Marieluise Beck. Aus den Boxen der Sound von Stinger-Raketen. Den Putin-Affinen wird, natürlich, ein eigener Sektor geboten, mit einer raffinierten compilation aus nordkoreanischem Artillerie- und russischem Panzerfaust-Audio. Gegen Entgelt können an Waffenattrappen die Bewegungsabläufe synchron zu den Schüssen nachgespielt werden. Für die ganz Harten oder politisch Indifferenten wird eine extended mix version aus beiden Kriegen und von allen Kriegsparteien gespielt.

Es sind nicht nur Synergieeffekte, die zwingend für dieses Modell sprechen: Damit wäre auch das merkwürdige journalistische Sub-Genre „Silvesterberichterstattung“ mit Live-Tickern, die sich wie Kriegsberichterstattung lesen, überflüssig. Und ich komme bei den Seniorinnen vorbei, ganz sicher.

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