Die Wahrheit: Knippeln am Deckel

Die Befriedung der Gesellschaft ist erreicht – auch mithilfe der Verschlusskappen von Tetrapacks oder der allseits beliebten Steuerklärungen.

Junger Mann schwimmt in Milch

Protestler badet in Milch: Die Regierung ist wie immer schuld Foto: dpa

Die Regierung kann einem leidtun. Das Hüten der Bevölkerung mit ihrer heterogenen Zusammensetzung, ihren mannigfaltigen Meinungen, Vorstellungen und Wünschen ist schlimmer, als einen Sack Flöhe zu regieren.

Und wo in autokratischen Systemen Quertreiber so simpel wie effektiv eingeschüchtert, einsperrt, gefoltert oder ermordet werden können, muss man in einer Demokratie zu anderen Mitteln greifen: Damit die Leute keinen Unsinn wählen oder pseudomündigen Scheiß anstellen – wie streiken, meckern und mit nervtötenden Alternativvorschlägen wedeln –, sollen wir uns allerlei behördlicherseits eigens geschaffenen Stillbeschäftigungen widmen. So wie man in vorfeministischer Epoche das aufsässige Weib mit Stickarbeiten ans Heim fesselte, gibt man jetzt sämtlichen Bürgern kleine oder große Kniffelaufgaben an die Hand.

Zum Beispiel hat man neuerdings per höchstem Beschluss die Plastikverschlüsse untrennbar an den Gießvorrichtungen der jeweiligen Tetrapacks befestigt. Nur damit die Menschen erst schier wahnsinnig werden, alles verplempern und herumprobieren wie so ein Äffchen, bis sie am Ende, meist aus reinem Zufall, griechisch-römisch auf die Lösung kommen: Heureka und per aspera ad astra.

Doch bis es so weit ist, haben sie ordentlich zu tun, sind runter von der Straße, raus aus dem Netz oder der radikalen Moschee, weg vom Superkleber oder Reichsbürgergewehr. Es lenkt sie ab von Lohndumping, Inflation und Klimakrise. Und, ganz entscheidend, besänftigt sie das endliche Erfolgserlebnis und lässt sie schnurren wie ein Kätzchen. Denn nur zufriedene Bürger sind gute Bürger.

Michel mit Milch

Wieder und wieder streicht der glückliche Michel mit der Hand über die Milchpackung. Aha, der Deckel geht tatsächlich nicht ab, das soll wohl wirklich so sein. Das weiß er jetzt. Ziemlich sicher jedenfalls. Nur warum, weiß er noch immer nicht. Doch die da oben werden es schon wissen. Wo kein Vertrauen ist, ist immerhin Resignation. Dankbar und demütig wendet er sich der nächsten Aufgabe zu, wie dem Trennen verschiedenfarbiger Glasflaschen, die später eh wieder zusammengeschmissen werden. Das Leben ist ein pausenloses Spiel. Da bleibt keine Kapazität mehr für Renitenz übrig, und auch die Jugendkriminalität konnte so kürzlich auf ein Rekordtief gesenkt werden.

Eine weitere Befriedungsmethode ist die Umgestaltung von Kreuzungsbereichen zur Schaffung sogenannter Fahrradstraßen. Hier soll durch die Errichtung von Pollern mittelfristig der Durchgangsverkehr vergrämt werden. Zwar weisen anfangs Schilder auf die geänderte Verkehrsführung hin, doch die werden erfahrungsgemäß nicht wahrgenommen.

Den Anwohnern bietet sich aus den oberen Stockwerken ein possierlicher Anblick, wenn unten kleine Autos immer wieder auf denselben Wegen am selben Hindernis scheitern und noch unendliche Male durchs Viertel kreisen. Aus der Vogelperspektive gleicht der Parcours einem Labyrinth, wie es in Streichelzoos gern für Meerschweinchen angelegt wird. Manchmal ist auch auf der Straße drauf so gut wie von der Straße runter. Wer hier gefangen ist, hat anderes zu tun, als über Energiepreise zu jaulen oder Bomben in Müllbehältern von Regionalbahnen zu verstecken.

Bahn für Bürger

Apropos Bahnen. Zu allen Zeiten gab es Bestrebungen, einen beträchtlichen Teil der Untertanen friedlich ruhigzustellen. Friedlich allerdings nur für die Herrschenden, denn das Volk schickte man in den Krieg oder verkaufte es als Söldner in andere Länder. Dort konnte es dann gern nach Herzenslust marodieren, solange es bloß im eigenen Land keinen Unfrieden stiftete. In jüngerer Zeit aber stellt man es buchstäblich aufs Abstellgleis: Schätzungsweise ein gutes Drittel der Bürger sitzen die ganze Zeit über in einem stehengebliebenen Zug oder warten irgendwo vergeblich auf irgendeinen Anschluss.

Das hat auch den willkommenen Nebeneffekt, dass sich das angestaute Protestpotenzial nunmehr mit voller Wucht gegen einen abstrakten Feind namens „Die Bahn“ richtet. Anstatt gegen die Regierung, die das monströse Konstrukt einst genau zu diesem Zweck geschaffen hat, ein Dr. Frankenstein und seine Zombie-Marionette, weder ernstlich funktional noch völlig dysfunktional, nicht tot und nicht lebendig.

Tradition hat auch das „Steuererklärung“ genannte kafkaeske Zahlenrätsel, mit dem bereits manch auflodernde Revolution im Keim erstickt wurde. Nur wegen dieser Aufgabe werden die Tage um den späten Advent sowie „zwischen den Jahren“ in Bayern und Österreich auch „die stade Zeit“ genannt: Alle sitzen still zu Hause, wo sie verzagt über ihren Formularen brüten.

Ein schöner, ein uralter Brauch, deutsche Leitkultur in Reinform. Und nichts erscheint den wachsamen, warmen Augen des Staates feiner als das zufriedene Strahlen der kleinen Bürgerin, wenn sie es am Ende des Jahres irrtümlich geschafft zu haben glaubt. Doch nun geht alles von vorne los.

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kari

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