Die Wahrheit: Das Geheimnis der Urinsekten

Wenn die Lesefähigkeit beeinträchtigt ist und der notwendige Besuch beim Augenarzt nur Gutes vorsieht. Ein Ortstermin beim Ophthalmologen.

Zwei Augen für eine Transplantation

Ach, ließen sich Augen doch einfach transplantieren Foto: Reuters

Ich habe dieses seltsame Problem mit den Augen. Besonders merke ich es beim Zeitunglesen, dass mir meine Augen mehr und mehr böse Streiche spielen: So lese ich statt „Verdeckte Ermittler“ immer öfter „Verdreckte Ermittler“. Statt „Uniformierte Polizisten“ steht da anscheinend „Uninformierte Polizisten“, und statt „Amseln“ lese ich regelmäßig „Anselm“ und umgekehrt – nur eben durch die Bank das Falsche.

Das ist im Alltag sehr ärgerlich, wenn ich mich mit Kollegen unterhalte und ich mir völlig unbrauchbare Diskussionsgrundlagen angelesen habe. „Die Polizei ist völlig uninformiert“, behaupte ich zum Beispiel lauthals nach dem dritten Bier, „so steht es in der Zeitung“, und dann guckt jemand nach, und alles hat mal wieder nicht gestimmt.

Wie stehe ich denn jetzt da? Seit einer Weile schon nimmt mich keiner mehr ernst. Es ist so peinlich. Ich wünsche mir sogar die Zeit zurück, da ich immer nur die rotgrünqueerversiffte Wessisau gewesen bin, aber wenigstens nicht der komplette Volltrottel. Jetzt grinsen sie mich bloß noch freundlich an, sobald ich den Mund aufmache. Ihr Mitleid schmerzt mich noch mehr als die Verachtung.

Ich muss dringend zum Augenarzt. Der soll meine Lesefähigkeit wiederherstellen. Erstaunlich zügig bekomme ich einen Termin. Bei Dr. Veit Schröder in der Bananenstraße ist sogar den ganzen Tag über alles frei. Auf dem Ärzte-Mobbing-Portal Jameda hat er im Schnitt 1,2 Sterne bei über 500 Bewertungen. „Hilfe, ich sehe nichts mehr!“, ist sinngemäß der häufigste Eintrag. Aber an dieser Hexenjagd will ich mich nicht beteiligen. Unvoreingenommen buche ich einen Slot noch für den selben Nachmittag.

Einziger Patient

Im Wartezimmer bin ich der einzige Patient, die Heizung ist aus Ersparnisgründen abgeschaltet. Dr. Schröder, der am Tresen bereits meine Versicherungskarte entgegengenommen hat, ruft mich auf und führt mich ins Behandlungszimmer. „Womit kann ich dienen?“, möchte er wissen.

Ich schildere ihm mein Leiden und bringe dazu weitere Beispiele: „Ich lese statt ‚Urmenschen‘ immer ‚Unmenschen‘ und statt ‚Ur-Insekten‘ erkennt mein Auge automatisch ‚Urin-Sekten‘. Woran kann das liegen?“

„Tja.“ Mit drei Fingern der rechten Hand krault der Augenarzt ausgiebig seinen spärlichen Kinnbart. Dann hat er wohl eine Idee, denn er bittet mich, meinen Kopf auf eine Stütze zu legen und das Gesicht zu entspannen. Als nächstes nimmt er, von mir zunächst unbemerkt, eine feine Nadel und sticht sie mir blitzschnell in beide Augen. Erst rechts, dann links.

„Aua“, sage ich, auch weil meine Augen jetzt irgendwie voll bluten.

„Das wird schnell besser.“ Er tröstet mich. „Schauen Sie mal dahin: Sagen Sie jetzt immer noch Unmenschen?“ Er zeigt auf eine Tafel, auf der oben ein in Felle gehüllter Neandertaler mit einer Keule abgebildet ist. Ich sehe nun natürlich nicht mehr viel, aber die Grafik ist zum Glück sehr groß.

Verschwommene Zahlen

„Urmensch“, sage ich. – „Sehr gut! Und darunter?“ – „Hm.“ Ich überlege. Lange. „Also ganz rechts ist die Vier. Daneben vielleicht, doch ja, das dürfte eine Zwei sein. Und ganz links, da muss ich jetzt wirklich raten: die Drei? Irgendwas Bauchiges. Kann auch ’ne Acht sein. Jau, die Acht! Da würde ich mich festlegen.“ – „Darunter ist eigentlich nichts“, sagt er. „Nur das Impressum. Jedenfalls keine Zahlen. Da sehen Sie sogar mehr als normal. Großartig. Ganz großartig.“

„Und was machen wir jetzt mit den Ur-Insekten?“

„Gar nichts“, bestätigt mir der Arzt. „Denn Sie haben instinktiv recht: Es heißt ja auch Urin-Sekten. Sie wohnen doch in Neukölln. Bestimmt beobachten Sie vor allem nachts oft Leute, die in Hauseingängen und an Straßenbäumen urinieren. Die sind alle von Bill Gates gesteuert. Mit dem Urin markieren die Geimpften, Gechippten und Ampelmännchen ihre Reviere und senden einander in den Duftstoffen verborgene Botschaften. Beziehungsweise ‚verbogene‘ Botschaften, wie Sie vermutlich und ebenfalls nicht ganz zu Unrecht lesen würden. So ziehen sie ihr Netz unauffällig immer dichter, bis keiner mehr entschlüpfen kann. Und die Mobilisierungscodes entnimmt die Sekte ganz einfach der Tagespresse. Sie gehören zu den Auserwählten, die das durchschaut haben. Glückwunsch! Damit sehen Sie praktisch mehr als alle anderen, und nicht weniger.“

Au weia, ich bin offenbar an einen veritablen Schwurbelarzt geraten. Das hätte ich bei den Bewertungen gar nicht gedacht. Auf der anderen Seite haben mich seine Worte aber auch ein bisschen stolz gemacht. Die Kollegen lachen mich immer nur aus. Hier finde ich endlich die Bestätigung, dass ich offenbar jahrelang systematisch gegaslightet wurde. Doch dieser Mann hat mir nun buchstäblich die Augen geöffnet.

Danke, Dr. Schröder.

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kari

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