Hier war mal was

Die Jugendlichen im polnischen Oświęcim träumen von einem ganz normalen Leben in einer ganz gewöhnlichen Stadt – von einem Leben nach und ohne „Auschwitz“

AUS OŚWIĘCIM MIA RABEN

Vor dem kleinen Skateboard-Laden, wo seine Freundin jobbt, steht Krzysztof Firlej. Er trägt einen schwarzen Ledermantel. „Oświęcim ist eine ganz normale Stadt“, sagt er. Sie hieß eben eine Zeit lang Auschwitz, und am Stadtrand haben die Deutschen über eine Million Menschen ermordet. Krzysztof ist 26 Jahre alt und möchte, dass Oświęcim gewöhnlich ist. Schließlich will er hier alt werden. „Machen wir eine Spritztour!“, sagt er.

Das Wetter über den südpolnischen Landstraßen ist sonnig und klar, viel zu schön für all das, was man mit Auschwitz verbindet. Vor der Villa, in der früher Rudolf Höß, der Lager-Kommandant, gewohnt hat, steht ein Mütterchen mit Kopftuch am Straßenrand. Krzysztof fährt schnell, nur wenn er etwas zeigen will, wird er ein bisschen langsamer.

Die Disko könnte stören

Mit dem Kinn weist er nach links, auf ein Gebäude. „Da war mal eine Disko. Dann musste sie zumachen. Es ist immer dasselbe“, sagt er. Die Disko musste schließen, weil Holocaust-Überlebende weltweit dagegen protestiert hatten. In direkter Umgebung des Gebäudes liegt eine Jugendbegegnungsstätte. Laute Musik hätte den „kontemplativen Charakter“ des Ortes stören können. Jetzt verfällt das Haus. Die Fensterscheiben sind zerbrochen, der Putz bröckelt, keiner kümmert sich. Krzysztof findet, dass die Juden zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Er sagt, es stört ihn, dass sich Polen ein Stück Land kaufen und dann diktiert bekommen, was sie darauf zu tun oder zu lassen haben.

Wenn auf dem Marktplatz der Stadt eine Kapelle spielt, weil es was zu feiern gibt, dann hört man das im Krematorium drei Kilometer weiter. Es gibt eine nichtkommerzielle Schutzzone um das Museum. Deswegen hat es viel Streit gegeben. Die lokalen Kleinunternehmer wehren sich gegen die Auflagen wegen der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, wegen der Opfer, wegen der jüdischen Weltgemeinschaft. So war es mit der Disko, so war es mit dem Supermarkt, so war es viele Male.

„Der Bürgermeister ist ein Antisemit“, sagt ein Mitarbeiter der Gedenkstätte. „Außerdem, wer will schon diese durchschnittliche Stadt besuchen? Alle wollen doch das KZ sehen!“ Der Bürgermeister sagt: „Wir haben als Stadt sehr viel zu bieten. Es gibt Leute, die wollen das Leben um die Gedenkstätte vernichten.“ Es weht ein eisiger Wind.

Krzysztof hat eigentlich keine Zeit, sich über solche Sachen Gedanken zu machen. „Wir sind arm. Ich muss arbeiten und studieren.“ Von Montag bis Freitag zeigt er Kindern und Jugendlichen, wie man mit Computern umgeht. Dabei verdient er umgerechnet 120 Euro im Monat. Die Eltern haben einen kleinen Lebensmittelladen an der Landstraße nach Krakau. Am Wochenende studiert Krzysztof Informatik. Die Studiengebühren sind 500 Euro pro Semester. „Ein Vermögen“, sagt er und schafft es gerade so, sie zu berappen.

Bis heute ist die von den Zwangsarbeitern aufgebaute IG-Farben-Fabrik der größte Arbeitgeber der Stadt. Trotzdem ist fast jeder Fünfte arbeitslos. Vor dem Krieg lebten in Oświęcim rund 12.000 Menschen, davon über die Hälfte Juden. Nach dem Krieg standen viele Wohnungen leer. Häuser und Fabrik lockten Arbeiter von außerhalb an. Jetzt leben gut 40.000 Menschen hier. Wie Krzysztof hat fast keiner von ihnen Wurzeln in der Stadt. Juden leben hier keine mehr. Die Geschichte ist für die meisten Bewohner ein fremdes Erbe. Der „bösartige Tumor“, heißt es in einer Broschüre der Gedenkstätte. Das KZ hat der Stadt Oświęcim ihre Identität geraubt.

Immer wieder diese Fragen

Die Bewohner der Stadt haben es nicht leicht, bestätigt Tomasz Kuncewicz vom Jüdischen Institut in Oświęcim. Der 32-jährige Direktor hat in Brandeis bei Boston studiert. Aus der ganzen Welt kommen die Besucher – und stellen den Stadtbewohnern immer wieder diese Fragen: „Wie halten Sie es nur aus, an so einem Ort zu leben?“ Oder: „Wie konnten Sie zulassen, dass so etwas passiert?“

Während der Nazi-Herrschaft halfen viele Bewohner von Oświęcim den Häftlingen. Maria Bobrzecka, die Apothekerin, riskierte ihr Leben, indem sie Medikamente ins Lager schmuggelte. Jacek Stupka, ein fünf Jahre alter Junge, gab Häftlingen heimlich Schokolade und Zigaretten. Die Liste der Oświęcimer Helden ist lang. Die wenigsten wissen, dass es sie gibt.

Jetzt, vor dem großen Gedenktag, wenn über 30 Staatschefs kommen, hat der Bürgermeister angeordnet, dass alle gastronomischen Betriebe öfter kontrolliert werden sollen. Piotr ist 24 Jahre alt und Küchenhilfe in der Dönerbude am Marktplatz. Auch er will, dass Oświęcim eine ganz gewöhnliche Stadt sei. „Oświęcim ist eine Stadt wie jede andere auch“, sagt er. Dann lächelt er über sein Wunschdenken und sagt: „Na ja, nicht ganz. Hier war ja mal was.“ Das „was“ bleibt in der Rauchwolke von angebranntem Dönerfleisch hängen. „Du weißt schon“, sagt er.

Der Imbiss gehört Yusuf Yirgit, dem einzigen Türken in Oświęcim. Vor fünf Jahren hat er eine Polin geheiratet und ist mit ihr hierher gezogen. Vorher hat er in Deutschland gelebt. Dort lebt seine Exfrau, eine russische Aussiedlerin, an deren Vornamen er sich einfach nicht mehr erinnern kann, mit seinem Sohn. Den hat er seit der Geburt vor sechs Jahren nicht mehr gesehen. Yusuf ist jetzt 27 Jahre alt. „Als ich hierher kam, habe ich die Leute gefragt: Was war hier los im Krieg? Ich wollte alles wissen. Aber niemand wollte mir was sagen. Irgendwann habe ich verstanden, dass die Leute vergessen wollen. Da habe ich dann aufgehört zu fragen.“

Krzysztof will gar nicht erst fragen. Er fährt langsamer und zeigt nach links auf einen sozialistischen Bau. „Ein Schwimmbad haben wir auch“, sagt er. Am Ende der Straße taucht ein See auf. Er sieht karg und lieblos aus. „Hier kann man toll Urlaub machen! Kajak fahren oder baden.“ Um den See herum stehen dünne Birken ohne Blätter. Sie sehen aus, als hätte jemand sie kahl geschoren. Im Auto riecht es nach künstlicher Vanille.

Vor einem sechsstöckigen Plattenbau parkt Krzysztof den Wagen. Die Tür zur Wohnung ist nicht abgeschlossen. Seine Schwester Karina ist ein Jahr jünger als er, 25. Sie wohnen mit ihren Eltern in dieser 60 Quadratmeter kleinen Wohnung, die zwei Kilometer Luftlinie vom Lager entfernt ist. Waren sie mal dort? Ja, sie waren mal da, mit dem Besuch aus Österreich. „Die wollten hin, da bin ich mitgegangen“, sagt er.

In der Wohnung ist es voll und eng, aber gemütlich warm. Im Wohnzimmer steht noch der bunt beleuchtete Tannenbaum und verbreitet vergangene Fröhlichkeit. Die Geschwister erzählen, wie es in Österreich bei den Cousins war. Da waren sie auf einer Party, wo ein Mädchen ihr Essen so hinuntergeschlungen hat. „Ey, du kommst wohl gerade aus Auschwitz!“, hat ein Junge zu ihr gesagt. „Nee, ich komm aus Auschwitz!“, hat Krzysztof gesagt. Alle hätten gestaunt. Krzysztof und Karina kichern, als hätte jemand einen versauten Witz gemacht.

Karina trägt zwei Teller mit Kuchen und Keksen ins Wohnzimmer. „Ich will so schnell wie möglich weg“, sagt sie. Am liebsten nach London und als Krankenschwester arbeiten. Hier gibt es keine Zukunft. Sie könnte hier vielleicht einen Job finden, aber man verdient so wenig, höchstens 250 Euro im Monat, ein Hungerlohn.

Traum von der Zukunft

„Ich würde auch am liebsten weg“, sagt Krzysztof. Nach Österreich, aber das geht nicht. Wer soll dann für die Eltern sorgen, wenn sie alt sind? „Wenn Karina nicht geht, dann gehe ich!“ Beide lachen. Sein Traum ist es, eine eigene Familie zu haben. Er will nicht viel Geld haben, nur so viel, dass die Kinder satt werden. „Aber davon träumt wohl jeder“, sagt er, als hätte er sich eine riesige Villa und drei Rolls-Royces gewünscht.

Aber die Stadt biete den Jugendlichen auch Vorteile, sagt Andrzej Kacorzyk. Der Historiker ist im Museum Auschwitz-Birkenau für Bildung zuständig. „Die Schulen in Oświęcim können sich ihre Partnerschulen aussuchen. Jede deutsche Schule will eine Partnerschule in Auschwitz. Das ist doch toll!“ Krzysztof findet das auch. Er sagt: „Die Stadt ist weltberühmt. Wenigstens etwas.“