Der das Chaos regierte

VON GEORG BALTISSEN

Die Kefije und der Stoppelbart waren sein Markenzeichen. Und wenn die Gelegenheit es erlaubte, dann schnallte er sich auch noch das Pistolenhalfter um, wie 1974 bei seinem legendären Auftritt als Chef der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, vor der UN-Vollversammlung in New York. Unumstrittener Höhepunkt der politischen Karriere des Guerilla-Führers Jassir Arafat, an den weder die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahre 1994 noch die Wahl zum Präsidenten der Palästinenser im Jahre 1996 heranreichen können.

Olivenzweig und Pistole bilden die ebenso dauerhafte wie widersprüchliche Einheit im Leben dieses herausragenden palästinensischen Politikers, dessen Ehrgeiz seiner persönlichen historischen Rolle ebenso galt wie seinem politischen Lebensziel. An seinem eigenen Mythos hat niemand so gezimmert, wie der PLO-Vorsitzende selbst. Dramatische Auftritte kann er in Hülle und Fülle vorweisen. Sie alle dienten nur einem einzigen Zweck: Arafat als den Inbegriff von Mister Palestine auszugeben. Keine Übertreibung war ihm zu grotesk, keine Heuchelei zu beschämend, keine Beschimpfung zu beleidigend, um Rivalen in die Schranken zu weisen, kein Trick zu plump, seine politische Macht zu verteidigen.

Der Trickser

Schon die Machtübernahme innerhalb al-Fatahs zum Ende der 50er Jahre und später innerhalb der PLO Ende der 60er Jahre zeigt ihn als einen listenreichen Verschwörer, der sich nicht scheut, seine Mitstreiter übers Ohr zu hauen, sie in ermüdenden Nachtsitzungen niederzuringen oder schlicht auszutricksen. So unterlief er die Entscheidung von al-Fatah, eine kollektive Führung aufzubauen, indem er sich in gezielten Pressemeldungen als mysteriöser Führer einer militanten Geheimorganisation namens Abu Ammar ausgeben ließ, in Anlehnung an den Namen eines geachteten islamischen Feldherrn und Gefolgsmanns des Propheten Mohammed. Arafat hat immer erst ein Chaos geschaffen, um dann im und durch das Chaos zu regieren. Sei es in Beirut, wo die PLO bis 1982 residierte, sei es in Tunis oder in Gaza, wo Arafat seit seinem triumphalen Einzug im Sommer 1994 seine „Palästinensische Autorität“ etablierte.

Nichts ist in der arabischen Welt so entlarvend wie Witze über die Führer der Nationen. Über Arafat erzählte man sich in den späten 90er Jahren im Gaza-Streifen, dass er für einen Wagen der Autonomiebehörde grundsätzlich drei Fahrer einstellte und zwei von ihnen stets zur selben Zeit zum Dienst antreten ließ. Wenn es sich aus politischer Opportunität nicht vermeiden ließ, diplomatische Posten doppelt zu besetzen oder zumindest doppelt zu versprechen, dann schreckte Mr. Palestine selbst davor nicht zurück. So geschehen in den 80er Jahren in Österreich, wo die PLO die erste diplomatische Anerkennung in einem westlichen Land genießen konnte. Entscheidend war und blieb in der PLO über mehr als 40 Jahre immer die Unterschrift Arafats. Das betraf keineswegs nur kostspielige Anschaffungen oder die Besetzung diplomatischer Posten. Selbst wenn ein PLO-Kämpfer aus dem Jemen zur medizinischen Behandlung ins westliche Ausland geschickt werden sollte, konnte dies ohne die Unterschrift Arafats nie geschehen.

Die Kontrolle der Finanzen war das Machtmittel, mit dem Arafat seine Gegner und Kritiker in Schach hielt. Wer ihn kritisierte oder sich ihm gar widersetzte, konnte sicher sein, dass die Überweisung auf sein Konto oder der überlebenswichtige Scheck ausblieben. Um eine solche Bestrafung rückgängig zu machen, gab es nur eins, den Canossagang zum „Alten“. Reuige Sünder hat er stets wieder in die Arme geschlossen. Wenn es die Situation erforderte, hat Arafat selbst militärische Bündnisse mit dem ärgsten Gegner nicht ausgeschlossen. So verhandelten PLO-Abgesandte Mitte der 80er Jahre mit den Chefs der christlich-maronitischen Miliz im Libanon über eine Allianz gegen die syrisch-inspirierte Belagerung der palästinensischen Flüchtlingslager Sabra, Schatila und Burj al-Barajneh in Beirut.

Legion sind auch die Erzählungen über Brüche und Entzweiungen innerhalb der PLO selbst. Arafats großer Gegenspieler unter den Palästinensern war in den 70er und 80er Jahren der Arzt und Chef der Volksfront George Habbasch. Als langjähriger Sympathisant der Muslimbrüder hatte Arafat kein Vertrauen in die sozialistischen und panarabischen Ideale der Volksfront. Dennoch gelang es ihm, auf der Nationalratssitzung in Algier 1987 auf Kosten der Beziehung zu Ägypten eine innerpalästinensische Versöhnung zu erreichen. Nach der militärischen Niederlage gegen Israel im Krieg von 1982 und dem Abzug der PLO aus Beirut hatte Arafat im Sommer 1984 im Norden Libanons persönlich eine weitere militärische Niederlage gegen die prosyrischen PLO-Rebellen unter Oberst Abu Mussa hinnehmen müssen, an der auch die Volksfront beteiligt war. Auf einem griechischen Schiff rettete er sich dank der USA mit knapper Not aufs Mittelmeer, die anschließende Odyssee endete schließlich in Tunis. Politisch wurde Arafat dann wieder durch die Intifada gerettet, den Aufstand der Palästinenser, der im Dezember 1987 in den 1967 von Israel besetzten Gebieten ausbrach. Im November 1988 konnte Arafat dank dieses Aufstandes auf der Sitzung des palästinensischen Nationalrats seine radikaleren Gegner kaltstellen, den Staat Palästina proklamieren und somit auf palästinensischer Seite die Voraussetzung für eine Zweistaatenlösung im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan schaffen.

Das Chamäleon

Nie haben Arafat und die PLO eine militärische Auseinandersetzung zu ihren Gunsten wenden können. Immer waren sie die Verlierer, vom jordanischen über den libanesischen Bürgerkrieg und der israelischen Invasion im Libanon bis hin zu der innerpalästinensischen Rebellion unter Abu Mussa. Immer aber war es dem Chamäleon Arafat gelungen, militärische Niederlagen in politische Siege umzumünzen. Das gilt selbst für den Beginn dieser Legende, die Schlacht von al-Karameh im Jahr 1968 im Jordantal, als einige hundert palästinensische Fedajin die israelische Armee mit jordanischer Unterstützung in einer Panzerabwehrschlacht zum Rückzug zwangen und damit so etwas wie die „Ehre der arabischen Waffen“ nach dem verloren gegangenen Junikrieg von 1967 wiederherstellten. Nicht so im Jahr 1991. Die politische Fehlentscheidung Arafats, die dieser seinerzeit gegen den Willen hochrangiger Gefährten wie dem Geheimdienstchef Abu Ijad (Salah Chalaf) trifft, wird zu einem Wendepunkt im Nahostkonflikt.

Der Paria

Die Parteinahme für Saddam Husseins Regime stürzt die PLO nach der irakischen Vertreibung aus Kuwait in eine existenzielle Krise. 400.000 Palästinenser müssen die Golfstaaten verlassen, die PLO ist pleite. Vom Tisch der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid im Oktober 1991 bleibt Arafat ausgeschlossen. Er ist zum Paria geworden. In Geheimgesprächen mit Israel suchen PLO-Repräsentanten zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten ist. Die Vereinbarungen von Oslo, die im September 1993 auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington unterzeichnet werden, sind das Ergebnis. Das israelische Diktat, das Arafat hinnehmen muss, ist nur übertüncht. Eine geschwächte PLO akzeptiert ein Abkommen, dessen Folgen Palästinenser und Israelis auch zehn Jahre später auf bittere Weise zu spüren bekommen. Vereinbart wird eine Art Staatsgründung auf Probe, argwöhnisch belauert vom israelischen Erzfeind.

Als Friedensnobelpreisträger sonnt sich Arafat hernach in der internationalen Aufmerksamkeit, die ihm von Bonn und Paris, von Washington und London entgegengebracht wird. Aber in den autonomen Gebieten, in denen er noch im Januar 1996 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt wird, zieht das aus Beirut und Tunis bekannte Chaos ein. Aus Mister Palestine ist Mister President geworden. 1998 sinkt seine Popularität unter den Palästinensern auf knapp 40 Prozent. Korruption und Misswirtschaft machen sich breit.

Trotz eines fortgesetzten israelischen Siedlungsbaus und der Beschlagnahme palästinensischen Landes hofft der „Rais“ (arabisch: Präsident) dennoch weiter auf den „Frieden der Mutigen“. Doch die israelische Regierung setzt nicht einmal das Abkommen von River-Wye aus dem Jahre 1998 um, das einen weiteren israelischen Teilrückzug einfordert. Auf der Konferenz von Camp David, die im Juni 2000 unter Vorsitz von US-Präsident Bill Clinton eine endgültige Friedensvereinbarung formulieren soll, kommt es zum Eklat. Arafat verweigert sich dem Diktat der USA und Israels und lehnt eine Vereinbarung ab, in der die Frage der Flüchtlinge und die Zukunft Jerusalems ausgeklammert bleiben sollen. Arafat schwebt noch einmal auf einer Wolke palästinensischer Begeisterung. Doch die Folgen sind ernüchternd.

Der Gefangene

Nach dem demonstrativen Besuch des derzeitigen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon am 28. September 2000 auf dem Tempelberg beginnt die zweite, die Al-Aksa-Intifada. Und die wird mit Waffen und Selbstmördern ausgetragen. Weit über 2.000 Opfer fordert der Konflikt bislang auf palästinensischer Seite. Die Rechnung zwischen den alten Erzfeinden Ariel Scharon und Jassir Arafat, die sich schon 1982 in Beirut gegenüberstanden, wird beglichen. Die Schlacht um Palästina nimmt persönliche Züge an, als Scharon Arafat in seinem Hauptquartier in Ramallah angreift und zum „isolierten Gefangenen“ macht. Zum ersten Mal in seinem Leben kann sich Arafat nicht mehr zur Wehr setzen. In einer groß angelegten Militäroffensive besetzt Scharon alle autonomen palästinensischen Städte außer Jericho. Der Traum von einem palästinensischen Staat mit Jassir Arafat an der Spitze ist zu Ende. Doch seine vollständige Entmachtung über die Einsetzung eines palästinensischen Ministerpräsidenten weiß der erfahrene Taktiker noch einmal zu sabotieren. Abu Masen gibt im September 2003 nach zermürbenden Konflikten mit Arafat sein Mandat zurück. Als Arafat über die Verhängung des Ausnahmezustands die Macht und die Kontrolle über die diversen Sicherheitsdienste wieder an sich reißen will, schmeißt auch der designierte Nachfolger Abu Masens, Ahmad Kurei, das Handtuch. In diesem letzten Machtkampf demonstriert Arafat noch einmal seine Stärke und seine Tragik. Zu Lebzeiten hat ihm kein palästinensischer Politiker das Wasser reichen können.

Dennoch verkörpern sich in den persönlichen und politischen Ambitionen Jassir Arafats auch die Hoffnungen des palästinensischen Volkes. Dessen vergessenes Schicksal als bedeutungslose und armselige Flüchtlinge ohne jede Stimme hat er zu einem Politikum gemacht, mit dem sich die ganze Welt befassen musste. Und er hat den Weg zurück nach Palästina geebnet, vom jordanischen und libanesischen Bürgerkrieg über das Exil in Tunesien zurück nach Gaza und Ramallah. Der Weg nach Jerusalem aber blieb ihm versperrt. Chalil al-Wasir, alias Abu Dschihad, einer seiner engsten Mitstreiter, der im März 1988 zu Beginn der ersten Intifada vom israelischen Geheimdienst in Tunis ermordet wurde, hat vermocht, die Bedeutung Arafats für das palästinensische Volk, dessen Angehörige inzwischen über die ganze Welt verstreut sind, in Worte zu kleiden: „Jassir Arafat ist nicht nur ein politisches Symbol; wir spüren und wissen, dass in ihm all unsere Ängste, all unsere Träume und all unser Leid Gestalt annehmen … In diesem einen Menschen vereinigt sich alles von uns, alle unsere Emotionen, all unsere Kraft, alle unsere Schwächen, alle unsere Widersprüche.“ Darin mögen Tragik und Größe des nationalen palästinensischen Befreiungskampfes begründet liegen. Sein Ende aber gewiss nicht.