Die Taliban als Talisman

Rund um die Provinzhauptstadt Khost haben Taliban und al-Qaida noch viele Unterstützer. Das Grenzgebiet zu Pakistan gilt als besonders konservativ

AUS KHOST ANTJE BAUER

Am Rande von Khost liegt ein seltsames Gebäude. Wie ein Kirchenschiff, aber ohne Dach. Durch die Fensterhöhlungen weht der Wind. Es ist ein Friedhof. Dutzende Gräber liegen darin dicht nebeneinander. Vor jedem Erdhügel steckt ein Holzschildchen: „Märtyrer aus Badachschan“ steht darauf, „Märtyrer aus Pakistan“ oder „arabischer Märtyrer aus dem Jemen“. Madschidschan, ein dürrer, alter Mann, ist der Wächter dieses inoffiziellen Friedhofs. „Es geschah vor drei Jahren“, sagt er. „Während des Ramadan. Sie waren in der Moschee zum Beten – und wurden bombardiert.“

„Sie“, das waren Taliban, also radikalislamische Koranschüler, und ausländische al-Qaida-Kämpfer. Die Taliban rekrutierten sich in der Mehrheit aus patriarchalischen, konservativen Paschtunen, die beiderseits der afghanisch-pakistanischen Grenze leben. Deshalb hatten sie sich im Dezember 2001 in der abgelegenen Stadt Khost, einer ihrer Hochburgen nahe der Grenze zu Pakistan, noch verschanzen können, als Kabul und der Norden Afghanistans schon längst gefallen waren.

Dann kam der US-Luftangriff. 150 Glaubenskämpfer hätten in Khost den Tod gefunden, ließ Ussama Bin Laden danach verlauten. „Sie waren unschuldig“, sagt Madschidschan, „und sie sind ermordet worden. Nun sind sie Gott nahe. Und wir kommen hierher, um zu beten, dann sind auch wir Gott nahe.“

Tausende bunte Tücher und Stofffetzen flattern über den Gräbern. Fromme Bittsteller haben sie hinterlassen, denn der Friedhof ist zur Wallfahrtsstätte geworden. Es herrscht reger Betrieb. Ein vierzigjähriger Mann hat seinen Sohn hergebracht, einen Jungen mit geschwärzten Augen und einer bestickten Kappe auf dem Kopf. Er habe häufig Fieber, und er fürchte sich nachts, sagt Salim, der Vater. Er habe gehört, es gebe hier einen Blinden, der bete für die Kranken, dann würden sie gesund.

Salim ist erst vor kurzem aus dem pakistanischen Exil zurückgekehrt. Politisch setzt er auf Karsai. Medizinisch auf die Taliban. Er führt seinen Sohn zu dem Blinden in der löcherigen Kutte, der am Friedhofseingang sitzt. Der Junge muss eine Messerspitze Salz aus einem Schälchen schlucken, der Blinde murmelt etwas. Salim gibt ihm ein wenig Geld und geht.

Ein paar hundert Meter stadteinwärts steht dort, wo die Taliban vor drei Jahren den Tod fanden, eine nagelneue, lindgrüne Moschee. Die Amerikaner haben sie wieder aufgebaut. Das Areal ist menschenleer, die Türen der Moschee sind abgeschlossen. Nur aus den alten, verrosteten Wasserhähnen, an denen früher die Gläubigen die rituelle Waschung vornahmen, tropft es. „Die Ungläubigen haben diese Moschee gebaut“, sagt der Alte vom Taliban-Friedhof, „deshalb geht dorthin niemand beten.“

Khost besteht aus einer Ansammlung von Gehöften: Einstöckige Häuschen aus Lehm, die sich um einen Innenhof gruppieren, drum herum hohe Mauern. Schier endlos ziehen sich die staubigen Straßen hin, nur an manchen Stellen ragen Bäume darüber hinaus. Die Frauen leben drinnen, hinter den Mauern. Die Männer meistens davor. Kinder dürfen auf die Straße, um am Brunnen Wasser zu holen oder zu spielen. Sie sind Botschafter zwischen den nach Geschlechtern getrennten Welten. Mädchen im heiratsfähigen Alter, also etwa 12 bis 13 Jahre alt, wagen sich manchmal kurz an die Tür. Nur erwischen lassen dürfen sie sich nicht.

Im Stadtzentrum, dem Basar, stehen mehrstöckige Steinhäuser mit Fenstern zur Straße. Aber darin wohnt niemand, es sind nur Läden und Lager. In den Geschäften herrscht Halbdunkel, denn es gibt in ganz Khost keinen Strom. Fast nur Männer sind im Basar unterwegs, ganz selten huscht ein weibliches Wesen vorbei, verhüllt von einer hellblauen Burka. Die meisten Männer tragen lange Bärte und Turbane, die Jüngeren, Moderneren, ein Käppchen oder einen Pakol, die Wollkappe der Nordafghanen. Gar nichts auf dem Kopf zu haben gilt als ungehörig.

Was sie über die Wahlen denken? Allgemeine Ratlosigkeit. Die Männer drucksen herum, schieben einen vor, damit er antwortet, der will nicht, die anderen kichern. Eine Traube Neugieriger bildet sich, ein Polizist kommt vorbei und treibt die Menge pro forma mit einem Holzstöckchen auseinander. Dann zieht er sich zurück, und die Männer rücken wieder heran.

„Von Wahlen verstehen wir nichts, wir können doch nicht lesen und schreiben“, sagt ein Mann schließlich. Einige wenden sich zum Gehen. Über Politik zu reden bringt nur Ärger. „Wenn wir ein eigenes Parlament haben, dann können wir unsere Wünsche verwirklichen“, wirft ein älterer Mann in die Runde, mehr weiß auch er dazu nicht zu sagen. Die Menge verläuft sich. Der alte Mann setzt sich wieder auf seinen Hocker auf dem Bürgersteig und schlägt Nägelchen in einen alten Schuh.

Heruntergekommene Gebäude mit abblätterndem Putz, das ist die Universität der Stadt. In kleinen Klassenzimmern sitzen Studenten vor Lehrern mit Zeigestock. Studentinnen gibt es nicht an der Uni Khost. Professor Scharif lehrt hier Geschichte. Er sitzt in seinem Büro und erzählt, dass eine Wahl für Afghanistan etwas völlig Neues sei. „Die Afghanen sind überwiegend Analphabeten und wissen nicht, was Wahlen bedeuten“, sagt Scharif. „Aber wenn diese Wahlen gut verlaufen und die neue Regierung von der Bevölkerung akzeptiert wird, dann wird das für die Leute den Wert von Wahlen erhöhen.“

Batscha Muhammed, der Taxifahrer, wartet vor der Yacoubi-Moschee auf Kunden. Jawohl, er habe sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen, sagt er. Aber seine Frau nicht. Denn um sich eintragen zu lassen, müsse sie ihren Schleier lüften, und das sei gegen die Tradition.

„Wir haben kein Problem mit den Frauen, sondern mit den Männern, weil sie die Frauen nicht aus dem Haus lassen“, sagt Sahira Scharif, die Frau des Geschichtsprofessors. Die 42-Jährige ist die große Ausnahme unter den Frauen von Khost. Sie hat studiert. Sie arbeitet. Sie kommt mit Männern zusammen, mit denen sie nicht verwandt ist. Sie ist aktiv. Obwohl Mutter von zwei Kindern, gibt sie an der Uni Khost Psychologieunterricht und betreut eine Frauensendung bei Radio Khost.

Während der vergangenen Monate hat sie im Auftrag der Unama, der Mission der Vereinigten Nationen für Afghanistan, Wählerinnen registriert. Ist fast täglich mit einem UN-Konvoi in ein Dorf der Umgebung gefahren, hat die Frauen ins Haus des Dorfchefs gerufen und dafür geworben, dass sie sich für die Wahl registrieren lassen. „Es wird viel Propaganda gegen die Wahlen gemacht. Manche Frauen sagen, es sei eine Schande, wählen zu gehen, es sei gegen die Tradition“, sagt sie. „Aber ich antworte ihnen, dass es in der Geschichte Afghanistans viele aktive Frauen gegeben hat, und dass sie jetzt an den Wahlen teilnehmen sollen.“

Sahira Scharifs Überzeugungskraft ist es zu verdanken, dass die UN-Mitarbeiter geradezu frohlocken, wenn sie über die Registrierungsquote unter den Frauen von Khost reden: Von den erfassten künftigen Wählern sei etwa ein Drittel Frauen – ein Spitzenwert im nationalen Vergleich. Und das im konservativen Paschtunengebiet und trotz Drohungen und Angriffen seitens der Taliban!

Angesichts der Tatsache, dass Frauen etwa 60 Prozent der Bevölkerung stellen, ist ein Drittel den registrierten Wähler kein sehr hoher Anteil. Für manche ist das offenbar immer noch zu viel. Das bekam Sahira Scharif am eigenen Leib zu spüren. Vor ein paar Monaten klopften nachts Unbekannte an ihr Familiengehöft. Sahiras Schwiegervater ging an die Tür. Er solle dafür sorgen, dass Sahira zu Hause bleibe und nicht mehr arbeiten gehe, sagten die Männer durch die geschlossene Tür. Sonst werde sie umgebracht.

Sahira Scharif blieb zwei Tage zu Hause, dann ging sie wieder zur Arbeit – nun mit Leibwächter. Auch umgezogen ist sie inzwischen, in eine Wohnung in der Nähe der Kommandantur – dort sind Tag und Nacht Wachen aufgestellt. Sorgen macht sie sich vor allem, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte, wenn sie allein zu Hause sind. Aber dass die Taliban in Khost noch einmal die Macht übernehmen werden, glaubt sie nicht: „Die Bevölkerung von Khost ist des Krieges müde. Die Leute wollen Frieden und ein gutes Leben. Trotzdem werden uns solche Ereignisse wohl noch lange begleiten.“

„Solche Ereignisse“ gibt es in dieser Vorwahlzeit fast täglich. Mal werden im Ort Flugblätter gefunden, in denen die Taliban vor der Beteiligung an den Wahlen warnen. Mal schießen sie eine Rakete auf das UN-Gelände am Ortsrand. Oder sie greifen eine Polizeistation an. Häufiger beschießen sie mit ihren Raketen Lkws, die für die UN oder die US-Armee fahren. Im Mai überfielen sie auf der Straße nach Khost einen Konvoi von Wahlhelfern. Erst zündeten sie eine Mine, dann schossen sie mit Raketen, und schließlich kam es noch zu einem Gefecht. Es gab mehrere Verletzte. Kein Wunder, dass keine zivilen Ausländer mehr in Khost sind, mit Ausnahme einiger UN-Mitarbeiter, die ihren Stützpunkt nur selten verlassen.

Die US-Truppen gibt es noch. Sie haben am Stadtrand eine gut befestigte Basis. Gelegentlich fahren sie mit drohend in die Umgebung gerichteten Maschinengewehren auf Patrouille. Nachts sind ihre Kampfhubschrauber im Himmel über Khost zu hören.

In Yacoubi, 30 Kilometer nordöstlich von Khost gelegen, sind die Taliban angeblich noch immer stark, deshalb greifen die Amerikaner häufig dort an. Ein junger Mann aus dem Dorf, der seinen Namen nicht nennen möchte, berichtet: „Letztens wurden zwei Mullahs von den Amerikanern festgenommen und waren lange im Knast. Als sie freigelassen wurden, hatten sie Narben im Gesicht. Sie wurden mit Ketten gefesselt und von den Amerikanern mit Eisenkabeln geschlagen. So was spricht sich natürlich herum.“

Sonderlich beliebt sind sie nicht, die Amerikaner. Häufig würden die US-Truppen Denunzianten glauben, die nur ihre persönlichen Rechnungen mit jemandem begleichen wollten, so der Vorwurf vieler Leute. Diese Vorfälle machen es auch ihren afghanischen Verbündeten schwer, die Amerikaner zu verteidigen.

„Wann immer so etwas passiert, setzen sich unsere Ältesten und die Mullahs mit den Amerikanern zusammen, wir analysieren das und kritisieren uns gegenseitig; das ist ein sehr fruchtbarer Dialog“, sagt Meradschuddin Patan, der Gouverneur. Patan ist ein gebildeter Mann. Von 51 Lebensjahren hat er 25 in den USA verbracht. Erst vor einem halben Jahr ist der Ökonom von Präsident Karsai zum Gouverneur von Khost ernannt worden. In dieser Stadt der langen Hemden und Turbane trägt er einen Anzug und setzt auf den zivilisierenden Einfluss von Strom, Wasser und Gesundheitsversorgung. Der Gouverneur glaubt, dass er auf der Gewinnerseite steht, denn al-Qaida und die Taliban hätten kein strategisches Ziel, keine Vision.

Visionen werden der Bevölkerung von Mascha Qale, einem Dorf wenige Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt, seit dem Fall der Taliban genug zuteil. Mascha Qale ist ein regierungstreues Dorf. Es bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig. Nachts ist Ausgangssperre. Und täglich kämen die Amerikaner vorbei und würden mit ihnen reden, sagen die Männer, die sich vor dem Dorflädchen versammelt haben. Man müsse mit den Amerikanern zusammenarbeiten, denn die seien doch hergekommen, um ihnen zu helfen. Doch befragt, worin denn die Hilfe bestehe, rauft sich auch der 70-jährige Hadschi Sahib Gul den knallrot gefärbten Bart: „Nichts hat sich geändert!“, sagt er. „Nur die Schule gibt es jetzt. Aber immer noch keine Gesundheitsstation und keine Wasserversorgung.“ Dennoch werden sie wählen gehen. Schließlich müsse man doch dafür sorgen, dass das Dorf in Kabul angemessen vertreten wird.