Keine Zeit für taktische Spiele

Nach Cancún: Die nächste Welthandelskonferenz in Hongkong muss mehr globale Gerechtigkeit bringen – bilaterale Abkommen schaden vor allem den ärmsten Ländern

Wer Liberalisierung total und sofort will, macht nachhaltige Entwicklung auch im Norden unmöglich

Wenn die laufende Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO doch noch eine Entwicklungsrunde werden soll, muss sie vor allem die ärmsten Länder im Blick haben. Wir haben in Cancún erlebt, dass die so genannten Entwicklungs- und Schwellenländer zusammenstehen können. Das ist gut, darf sich aber nicht im Taktieren erschöpfen. Jede Freude über das Scheitern ist fehl am Platze. In Cancún hatten exportstarke Schwellenländer offenbar allein ihre Interessen im Blick. Genauer betrachtet wenden sich diese Interessen gleichermaßen gegen die ärmsten Länder wie auch gegen die Ökologisierung der EU-Agrarpolitik, wie sie im Juni mit der Entkopplung der Zahlungen von der Produktionsmenge beschlossen wurde.

Wie aber müsste eine erfolgreiche Entwicklungsrunde aussehen? Sie müsste real Menschen in den ärmsten Ländern zugute kommen und einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers in der Welt leisten. Deshalb nimmt die Landwirtschaft eine Schlüsselstellung für den Fortgang der WTO ein, wenn Cancún auch zeitlich und vordergründig an den Singapur-Themen scheiterte.

Zu einer gerechten Liberalisierung gehört die besondere und differenzierte Behandlung der ärmsten Länder. Bislang hat die EU auf klare Präferenzsysteme etwa für die so genannten Least Developed Countries (LDCs) gesetzt, so mit der „Everything but arms“-Initiative („alles außer Waffen“). Starke Schwellenländer profitieren davon nicht. Würde der Markt nun für alle gleichermaßen geöffnet werden, gäbe es diese Unterscheidung in ärmere und reichere Entwicklungsländer nicht mehr. Auf dem Zuckermarkt könnte beispielsweise Brasilien sehr rasch den größten Anteil abdecken. Dies ginge zu Lasten der Zuckerexporte der ärmsten Länder, die aufgrund kleinteiliger Strukturen zu höheren Preisen exportieren müssen und deren bisherige Präferenzen wertlos würden.

Wenn globale Gerechtigkeit das Ziel ist, besteht die Aufgabe also darin, einerseits exportstarken Schwellenländern den Marktzugang zu erleichtern, ohne dass dabei andererseits die ärmsten Länder verlieren. Die EU wird also weiterhin auf eine differenzierte Behandlung setzen müssen.

Dazu gehört auch eine differenzierte Berücksichtigung der Geschwindigkeit der Liberalisierung. Je schwächer die Staaten sind, desto dringender bedürfen sie eines Außenschutzes, um eigene Strukturen aufbauen zu können. Das sind Schutzmechanismen etwa bei Zöllen, die verhindern, dass die Binnenmärkte des so genannten Entwicklungslandes von außen zerstört werden.

Der Aufbau eines funktionierenden Binnenmarktes ist wesentlich für die Entwicklung eines Landes. Ein starker Binnenmarkt sollte als Erstes die Ernährung der eigenen Bevölkerung sicherstellen. Auch wenn der Export von Agrargütern eine wichtige Devisenquelle ist: Die Ernährung der eigenen Bevölkerung muss höchste Priorität haben und ist ein essenzielles Kriterium für gutes Regierungshandeln.

Da lässt es aufhorchen, wenn in Exportländern gleichzeitig viele der weltweit 800 Millionen hungernden Menschen auf dem Land leben, also da, wo Nahrungsmittel produziert werden. Hunger ist also nicht nur eine Frage der Handelsbilanz, sondern auch eine der Verteilung und des Zugangs zu natürlichen Ressourcen wie Land, Wasser, Wald, Saatgut. Wenn die Liberalisierung des Welthandels zu immer größeren Anbauflächen für Zucker oder Soja führt und dafür Kleinbauern ihr Land ohne jegliche Einkommensalternativen aufgeben müssen, dann widerlegt das den Irrglauben, dass eine reine Handelsliberalisierung Gerechtigkeit für alle Menschen bringt. Deshalb müssen Entwicklungsländern Marktzugänge ermöglicht und handelsverzerrende Zahlungen abgebaut werden. Es geht aber auch um das Schicksal der Kleinbauern. Es braucht Armutsbekämpfungspläne in den Entwicklungsländern, die die Landlosen in die Lage versetzen, den Hunger der eigenen Familien zu stillen.

Die Industrieländer werden ihre Politik auch daran ausrichten müssen, Hilfe zu Selbsthilfe zu leisten. Und den Entwicklungsländern muss geholfen werden, um die Qualitäts- und Sicherheitsstandards auf den Verarbeitungsstufen erreichen zu können, die Wertschöpfung und Absatz auf den Märkten ermöglichen.

Wer in Cancún „Liberalisierung total und sofort“ wollte, hätte eine nachhaltige Entwicklung aber auch im „reichen Norden“ unmöglich gemacht. Wir betreiben in der EU eine Agrarwende, die die Landwirtschaft an Nachhaltigkeitskriterien ausrichtet. Am neuen Bekenntnis zur ökologischen und sozialen Verantwortung, zu einer nachhaltigen Landwirtschaft in Europa darf auch zukünftig nicht gerüttelt werden.

Soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit sind Kriterien, die viele so genannte Entwicklungsländer ablehnen. Sie sehen in ihnen vor allem eine neue Schikane (oder gar Ökoprotektionismus) der Industrieländer. Dies sind aber doch auch Kriterien, die letztlich über unser aller Zukunft entscheiden. Die Forderungen der G 20, die Zahlungen für Umwelt- und Tierschutzmaßnahmen (Greenbox) zu deckeln, bedeutet ökologischen Rückschritt in den entwickelten Ländern. Sie abzubauen wäre gegen alle Umweltinteressen, liefe dem Klimaschutz zuwider und würde die notwendige Agrarwende behindern.

Grundsätzlich bleibt festzustellen: Die bereits in den letzten 20 Jahren durchgesetzte Liberalisierung hat nicht zu größeren Marktchancen der Least Developed Countries geführt. Vielmehr hat der liberalisierte Weltmarkt die Entwicklung zu einer kapitalintensiven Landwirtschaft beschleunigt. Der bislang angenommene Arbeitskostenvorteil der Entwicklungsländer fällt dabei kaum ins Gewicht. Die Folge: Inzwischen müssen immer mehr Entwicklungsländer Agrargüter importieren. Wer denn dann von dieser Entwicklung profitiert hat oder es auch in Zukunft tun würde, liegt auf der Hand. Es sind vor allem die transnationalen Unternehmen im Agrobusiness, die großen Saatgutunternehmen. Deshalb brauchen wir differenzierte Regelungen, die den ärmsten Ländern Chancen eröffnen, die nicht durch Schwellen- oder Industrieländer ad absurdum geführt werden.

In Cancún hatten exportstarke Schwellenländer offenbar allein ihre Interessen im Blick

Jetzt ist nicht die Zeit für taktische Spielchen. Denn in Hongkong muss am Verhandlungstisch die Idee in die Tat umgesetzt werden: globale Gerechtigkeit, die auch Handelsgerechtigkeit heißt. Bei aller zutreffenden Kritik an den WTO-Strukturen: Im Bemühen um mehr globale Handelsgerechtigkeit kommen wir um ein funktionierendes internationales Handelsregime heute nicht mehr herum. Von der Alternative – bilaterale Abkommen – werden die ärmsten Länder am wenigsten profitieren, weil sie weder Kapazitäten noch die Infrastruktur haben, um Direktinvestititonen ins Land zu holen.

Die Bundesregierung ist bereit und wird in der EU ihren Reformdruck weiter ausüben, zum Beispiel bei Zucker und Baumwolle, die in Brüssel auf der Tagesordnung stehen.

RENATE KÜNAST