Der Vogel, das Meer, das Kino

Lidokino (10): „Kohi Jikou“ von Hou Hsiao-Hsien und „L’intrus“ von Claire Denis im Wettbewerb

In der Sala Palagalileo wohnt eine Fledermaus. Bei manchen Vorführungen scheint sie zu schlafen oder an anderen Orten unterwegs zu sein, und fast hat man vergessen, dass es sie gibt. Dann aber ist sie wieder da, im Steigflug vor der Leinwand, und ohne dass sie es wüsste, interagiert sie mit dem Film. Etwa mit Hou Hsiao-Hsiens Wettbewerbsbeitrag „Kohi Jikou“ („Café Lumière“). Der beginnt mit einer Einstellung, die aus der Distanz Stromleitungen und Bahnschienen in der Dämmerung zeigt. Ein Vogel flattert durchs Filmbild, und gleich begegnet er zwei weiteren Tieren: der Fledermaus, die durch den Lichtstrahl des Projektors fliegt, und ihrem Schatten.

„Kohi Jikou“ ist ein schöner, ruhiger Film. Yoko, eine junge Frau (Yo Hitoto), kommt aus Taiwan nach Tokio zurück. Sie besucht Hajime, einen engen Freund (Tadanobu Asano), sie fährt zu ihren Eltern, denen sie mitteilt, dass sie schwanger ist. Der Kindsvater, ein Taiwanese, bleibt den ganzen Film über abwesend; heiraten möchte Yoko ihn nicht. Oft sieht man, wie sie isst, manchmal blättert sie in einem englischen Kinderbuch, und immer wieder sitzt sie im Zug. Die Kamera Lee Ping-Bings bleibt dabei auf Distanz; Nahaufnahmen sind selten, und die meisten Einstellungen dauern lange, ohne dass sich die Kamera oder die Figuren im Bild bewegten. Einmal etwa, zu Besuch bei den Eltern, liegt Yoko im Wohnzimmer auf dem Boden. Die einzige Aktion besteht darin, dass die Hauskatze durch den Raum streicht, auf den Schreibtisch springt oder an Yokos Zehen schnuppert. Oft rückt Hou Hsiao-Hsien Schienenstränge und Bahnhöfe ins Bild: Knoten- und Kreuzungspunkte; Menschen begegnen sich hier und treiben mit dergleichen Beiläufigkeit auseinander, mit der der Regisseur seine Figuren durch den Film streifen lässt. „Kohi Jikou“ ist ein schöner Beweis dafür, dass ein Kino ohne Erklärungen und Emphase viel mehr vermag als Filme, die jede Handlung ihrer Figuren erläutern und sich mit Bedeutung aufpumpen wollen.

Über Nacht dann ziehen Wolken auf, die Temperatur sinkt, und das Meer, bewegter als gewöhnlich, hat die grüngraue Farbe präraffaelitischer Küstenbilder angenommen. Am Horizont sind Frachtschiffe zu sehen. Mit etwas Fantasie kann ich dieses Bild der Adria in Claire Denis’ Wettbewerbsfilm „L’intrus“ (“„Der Eindringling“) auflösen.

„L’intrus“ spielt teilweise in der Südsee, und so wie Denis mit Hilfe ihrer Kamerafrau Agnès Godard Wasser, Wellen und Lichtreflexe in Szene setzt, erhält das Meer eine außergewöhnliche Körperlichkeit. Wenn schon „Kohi Jikou“ ein Film ist, dessen Handlung nachzuerzählen wenig Aufschluss über ihn gibt, so gilt dies umso mehr für „L’intrus“. Denis beschreibt verschiedene Momente des Eindringens: Mal schmuggelt jemand Drogen über einen abgelegenen Grenzposten in den Schweizer Bergen, mal dringt jemand in den fremden Kosmos Ozeaniens ein, dann wieder wird ein Herz transplantiert: ein Eindringling im Körper der Hauptfigur. Die Regisseurin definiert ihre Figuren nicht, indem sie sie in einem nachvollziehbaren Plot aufstellte; sie gibt ihnen stattdessen Präsenz.

Was vom Protagonisten Louis Trebor (Michel Subor) in Erinnerung bleibt, sind die Falten um seine Augen, die Altersflecken auf seinem Rücken, die Art, wie sich seine Hand in den Uferkies krallt, nachdem er beim Schwimmen einen Schwächeanfall erlitten hat. Nicht zu vergessen die Narbe, die nach der Herztransplantation seine Brust zerteilt. Denis’ großes Verdienst liegt darin, dass sie in ihren Filmen die Physis der Gegenstände, der Landschaften und der Figuren respektiert, und dies in einem Maße, dass sie den Zuschauer an eine synästhetische Erfahrung heranführt: Viel fehlt nicht, und die Augen spüren wie Finger, was sie sehen. CRISTINA NORD