Große Erwartungen an einen glücklichen Mann

Lidokino (1): Nach dem in Italien üblichen Streit um die rechte Besetzung der repräsentativen Kulturposten ist Marco Müller nun doch Herr über die 61. Filmfestspiele von Venedig

Wenn heute Abend der neue Film von Steven Spielberg, „The Terminal“, in Venedig die 61. Mostra internazionale d’arte cinematografica eröffnet, muss man sich Marco Müller als glücklichen Menschen vorstellen. Der Leiter des Filmfestivals ist zwar erst seit April im Amt, doch das Programm, das er und sein Team der kurzen Vorbereitungszeit abgetrotzt haben, macht Hoffnungen auf ein außergewöhnlich gutes Festival.

Dabei verlief der Amtsantritt nicht eben harmonisch. Müllers Vorgänger Moritz de Hadeln leitete die Mostra zwei Jahre lang. Wurden anfangs noch Befürchtungen laut, der ehemalige Berlinale-Chef könnte sich zum filmpolitischen Erfüllungsgehilfen der Berlusconi-Regierung machen, so erwiesen sich die Bedenken mit der ersten von De Hadeln verantworteten Mostra als grundlos.

Nur ein Jahr verging, bis der italienische Kulturminister Giuliano Urbani von der Forza Italia de Hadeln angriff. Zu wenig Stars kämen nach Venedig, zu wenig Hollywoodfilme seien programmiert, zu wenig werde für die heimatliche Filmproduktion getan, lauteten die stereotypen Vorwürfe. Nachdem der Präsident der Gesamtbiennale, Franco Bernabè, abgesetzt worden war und Davide Croff das Amt übernommen hatte, musste auch de Hadeln gehen. Dann aber geschah das Unerwartete: Nicht der von den rechten Kulturpolitikern favorisierte Schauspieler Giancarlo Giannini, sondern Müller bekam die Stelle – gegen den Willen von Regionalpolitikern der Provinz Veneto wie etwa dem Gouverneur Giancarlo Galan. Sie warfen Müller Interessenvermischung vor, weil er zuletzt für eine Filmproduktionsgesellschaft gearbeitet habe und daher nicht unabhängig sei. Die Anschuldigungen dürften als Vorwand zu werten sein; es ging Galan und seinen Getreuen wohl eher darum, dass Müller die in Venedig mittlerweile erwirkte konservative Kulturhoheit durcheinander bringen könnte.

Müller, der 51 Jahre alte promovierte Sinologe und Ethnologe aus einem italienisch-schweizerisch-griechisch-brasilianischen Elternhaus, kann schon heute auf eine außergewöhnliche Karriere zurückblicken: Unter anderem hat er die Festivals von Turin, Pesaro, Rotterdam und Locarno geleitet. Er hat den Huub Bals Fund, eines der wesentlichen Gremien zur Förderung von Filmprojekten in Entwicklungsländern, auf den Weg gebracht, außerdem das Schweizer Pendant dazu, die Fondazione Montecinemaverità, und vor zwei Jahren auch ein italienisches Pendant, die Fondazione Officina Cinema Sud Est. Er hat für die Film- und Videoabteilung von Fabrica gearbeitet, dem Forschungszentrum der Benetton-Gruppe, und zuletzt in Bologna bei Downtown Pictures Filme produziert.

Seine Kenntnis, seine Erfahrungen und seine Kontakte schlagen sich nun in einem Programm nieder, das in den unterschiedlichen Festivalsektionen für jede Form der Cinephilie etwas bereithält – und zwar nicht irgendetwas, sondern jeweils Namhaftes: So gibt es anspruchsvolle US-amerikanische Großproduktionen wie Steven Spielbergs Eröffnungsfilm oder Michael Manns Thriller „Collateral“, genauso aber auch Autorenfilme wie „Palindromes“ von Todd Solondz. Spike Lees neuer Film, „She Hate Me“ über Lesben mit Kinderwunsch und einen Samenspender, läuft außer Konkurrenz, da der afroamerikanische Regisseur der von John Boorman geleiteten Jury angehört. Das europäische Autorenkino ist unter anderem mit Claire Denis’ „L’intrus“, Mike Leighs „Vera Drake“ und François Ozons „5 x 2 („Cinq fois deux“) vertreten. Angesichts Müllers Vorliebe für das asiatische Kino nimmt es nicht wunder, wenn zahlreiche Filme aus Hongkong, Festlandchina und Japan programmiert werden, unter anderem von Hou Hsiao-Hsien, Jia Zhangke, Johnnie To und Miike Takashi. Schließlich widmet sich die Retrospektive den „Italian Kings of the B’s“: eine Hommage an lange nicht gezeigte B-Filme aus den 60er- und 70er-Jahren, zu ihnen zählen „Orgasmo“ von Umberto Lenzi (1969), „Quien sabe?“ von Damiano Damiani (1967) oder „La guerra di Troia“ von Giorgio Ferroni (1961). Zur 61. Mostra d’arte cinematografica breche ich also voller Erwartung auf. CRISTINA NORD