Die Nummer mit Gretchen

Karsten Wiegand stellt an der Staatsoper seine neue Inszenierung der Oper „Faust“ von Charles Gounod vor: Der Teufel steckt in der Daddelhalle, wo die Musik in ihrer vollen Schönheit erstrahlt

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

In Deutschland ist Goethe ein Nationalheiliger, deshalb muss die Oper „Faust“ – die einzige von Charles Gounod, die ihre Entstehungszeit überlebt hat – hierzulande immer noch „Margarete“ heißen. Nur weil der im Unfrieden geschiedene Peter Mussbach an der Staatsoper einen „Faust“-Schwerpunkt geplant hatte, darf sie hier ihren Originaltitel behalten. Nach Dusapin („Faustus. The last night“) und Busoni jetzt also Gounod (Berlioz fehlt noch).

Nun war Gounod wirklich ein viel zu frommer Mann für faustische Grübeleien über das Innerste, das die Welt zusammenhält. Endlos viele Messen hat er bis zu seinem Tod im Jahr 1893 geschrieben. Aber Gretchen hat ihn gerührt, das gefallene Mädchen, das er 1859 ganz prachtvoll in den Finalchor der himmlischen Heerscharen aufgenommen hat. Sein entzücktes Publikum hat er, mit feinstem Wohlklang über das Böse in dieser Welt getröstet, nach Hause geschickt.

Gewiss kein schlechter Musiker in seiner Zeit – und so elegant, wie ihn Alain Altinoglu an der Staatsoper dirigiert, sei ihm sogar das Verbrechen seines „Ave Maria“ zu Bachs C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier in christlicher Barmherzigkeit verziehen. Karsten Wiegand allerdings spielt ihm einen bösen Streich. Wenn der Chor am Ende sein „Gerettet“ anstimmt gegen das „Gerichtet“ des Mephisto, öffnet sich die Stahlwand, mit der die Bühnenbildnerin Bärbl Hohmann die Szene rückwärts verschlossen hat, und gibt den Blick frei nicht auf den Himmel der erlösten Seelen, den man sich zu Gounods Musik nur in Gold, Blau und Rosa ausgemalt vorstellen kann. Nein, so viel Kritik am Werk selbst muss schon sein: Wiegands Himmel ist ein Galadinner von Bankern, die mit Sekretärinnen und anderen Blondinen ihre Boni verprassen.

Man darf dabei ruhig auch an das christliche Bild des Abendmahls denken. Das ist schon ziemlich böse, dennoch ist Wiegands Regie keine Dekonstruktion des Werkes. Die Qualität dieses Münchner Theatermannes, die vor drei Jahren an der Staatsoper schon bei Donizettis „Maria Stuarda“ zu bewundern war, liegt vielmehr in der Sorgfalt, mit der er Brücken baut, auf denen die historischen Grenzen eines vergangenen Werkes überschritten werden können. Bei Donizetti war es das Milieu armer Leute zu Anfang des 19. Jahrhunderts, für Gounod ist es die Daddelhalle im Rotlichtviertel einer Kleinstadt von heute. Das ist keine Gewalt gegen den Komponisten, sondern ganz im Gegenteil ein Rahmen, in dem die wirkliche Schönheit seiner Musik wunderbar zur Geltung kommt. Denn Gounod hat Nummern geschrieben, Chansons, Walzer, Märsche, die allesamt noch heute Schlager aus der Jukebox sein könnten.

Hier kommen sie wirklich aus einem der ständig blinkenden Spielautomaten, die Mephisto mit Münzen füttert. Manchmal ist das Ding kaputt und braucht einen Tritt, um wieder anzuspringen – und weil ja der Teufel dahintersteckt, muss der ganze Chor mitzappeln im Takt von – Gounod, nicht von Wiegand. Den Faust und sein Gretchen kann freilich auch dieser Kunstgriff nicht retten. Sie bleiben so blass, wie sie es bei Gounod schon immer waren, ein dummer Junge mit Triebstau und ein noch dümmeres Mädchen, das dann natürlich nicht weiß, wohin mit dem Kind im Bauch … Aber es gibt solche Menschen ja wirklich, und bei Wiegand dürfen sie mit der Hilfe der großartigen Kostümbildnerin Ilse Welter so auf die Bühne, wie sie sind. Rührend, aber was soll man machen?

Nun ja, so realistisch sie Wiegand hinnimmt, so unwirklich schön können sie in der Staatsoper singen. Der amerikanische Tenor Charles Castronovo gibt einen entspannt und präzise artikulierenden Faust, Marina Poplavskaya singt ihre Margarete (trotz einer Grippeerkrankung bei der Premiere) so makellos hell und rein, dass man an die angebliche Unschuld der Figur fast schon glauben möchte. Und wenn es um den Titel der Oper geht, sollte man sie hier einfach „Mephisto“ nennen.

Das liegt an René Pape in dieser Rolle. Auch er musste sich für einen Schwächeanfall in der Pause entschuldigen lassen. Trotzdem ist er das Zentrum der ganzen Aufführung, er singt diese Rolle nicht nur mit seiner Wunderstimme, er spielt sie auch: ein eleganter, sehr französischer Teufel, der sich zu benehmen weiß, auch dann noch, wenn Wiegand ihn mit seinem Faust zur Walpurgisnacht auf den Strich, statt auf den Blocksberg schickt. Souverän spielt Pape dort den Kenner schöner Frauen und schöner Musik, elegant, ganz ohne goethesche Dämonie, dafür aber mit der Lebensart eines Charles Gounod. Denn so fromm er war, in dieser einen Oper war er durch und durch ein Franzose seiner Zeit. Ein Mann der Oberfläche mit untrüglichem Sinn für die Form. Jede Szene ist ein perfekt instrumentiertes Kleinod mit präzise berechneten Auftritten der Spielfiguren.

Wirklich neu und aufregend allerdings ist dieses Werk auch mit Pape und Wiegand nicht. Man muss es nicht unbedingt aufführen, aber wenn man es so gut kann wie die beiden, warum nicht?

Nächste Aufführungen: 19., 22., 25. und 28. Februar