crime scene
: Literatur der großen Schmerzen

Die einprägsamste Szene ist wahrscheinlich jene, in der die Frau, die Hände mit dem Kabel der Espressomaschine gefesselt, Letztere hinter sich herschleift, während sie sich über den Boden wälzt, um dem Mann zu entkommen, der sie töten will, derweil dieser, blutüberströmt und halb blind, da sie zuvor sein Auge mit dem Dosenöffner aufgeschlitzt hat, nach seinem superlangen Messer sucht. Das gehört allerdings schon zum Finale. Vorher konnte auch jene Szene Eindruck machen, in der die Frau nackt in der Dusche eines Luxushotels saß und sich die Klinge ihres Schweizer Taschenmessers immer wieder in den Oberschenkel hieb.

Dazu muss gesagt werden: Ryu Murakami ist kein Splatter-Autor, auch wenn er – als Schriftsteller und als Filmemacher – hemmungslos Bilder der Gewalt benutzt, um psychische Verwundungen kenntlich zu machen. Sein bekanntester Film, „Topas“ (1992), ist in mehreren Ländern verboten und wurde auch hierzulande lange nur in einer entschärften Version gezeigt. Auch darin, wie jetzt in „Piercing“ (im Original erschien der Roman bereits 1994), spielen extreme S/M-Praktiken eine Hauptrolle in der Handlung. Murakami inszeniert Gewalt nicht um ihrer selbst willen, sondern als Bild für den Horror des Lebens an sich. Das ist eine ernste Sache. Doch so eine Espressomaschinen- oder Schweizermesserszene zu schreiben und dabei ausschließlich hochkonzentriert Bedeutung herzustellen, ist wahrscheinlich sehr japanisch. Zynismus, Sarkasmus oder gar Ironie haben hier nichts verloren und sollen auch vom Leser nicht hineingelesen werden. Wenn man sich dann, auch wenn man sich auf die so todernste wie spannende Lektüre so vorurteilsfrei wie möglich eingelassen hat, bei der Espressomaschinenszene doch unwillkürlich fragen muss, wie ein Tarantino sie wohl inszenieren würde, erhebt sich damit vielleicht ein unbewusster innerer Protest gegen die ausweglos klaustrophobische Situation, die der Autor für seine Figuren geschaffen hat, und gegen die Zumutung, sie lesend miterleben zu müssen.

Es ist ein blutiges Kammerspiel für zwei. Dessen erster Akt gehört dem Mann allein. Er ist ein junger, erfolgreicher Werbegrafiker, ein Yuppie mit Frau und kleinem Kind, der an der wahnhaften Angst leidet, er könnte sein Baby mit einem Eispickel erstechen. Diese Fantasie kommt nicht von ungefähr, hat er doch vor Jahren eine Geliebte – stellvertretend für die Mutter, die ihn als Kind misshandelt hatte – mit einem Eispickel schwer verletzt. Die einzige Möglichkeit, sich von dieser Angst zu befreien und sein Kind zu retten, ist es, so beschließt er, jemanden zu töten. Er zieht aus, um sich eine Prostituierte für sein Vorhaben zu suchen. Doch die Sache läuft aus dem Ruder. Schon als die bei einem S/M-Club bestellte junge Frau im für den Zweck angemieteten Hotelzimmer auftaucht, hat er den Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Er kann nicht wissen, dass sie kurz zuvor ein Erlebnis hatte, das sie an ihr eigenes kindliches Trauma erinnert hat. Sein potenzielles Opfer ist genauso gestört wie er selbst und verhält sich keineswegs in der Weise, die er für seinen Plan erhofft hat.

Das Eigenartige an dieser Literatur der großen Schmerzen ist, dass einem die Figuren, auch wenn sie zu ungekannt extremen Handlungen fähig sind, durchaus schlüssig erscheinen. Man ist am Schluss heilfroh, ihrer blutigen Hölle entronnen zu sein, doch solange sie währt, hat sie ihre eigene Logik. Es muss nachgerade als eine Art von Trost gesehen werden, dass beide Personen diese Welt zu teilen scheinen. Immerhin: Besser zu zweit in der Hölle als allein. KATHARINA GRANZIN

Ryu Murakami: „Piercing“. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind, München 2009. 174 Seiten, 16,90 Euro