Verdammt gut gesehen

Nicht ohne Koketterie hat Cartier-Bresson 1952 postuliert, was eine Fotografie ausmacht: Es ist der entscheidende Augenblick. In Berlin gastiert nun die große Retrospektive des großen Fotografen

Manchmal lässt er seine Nähe zum Surrealismus durchblicken, wenn er in den Alltagssituationen das Zufällige, Komische fixiert

VON MARCUS WOELLER

„Taxifahrer möchte ich wirklich gern sein, aber kein Chauffeur werden.“ Mit diesen Worten wird Henri Cartier-Bresson, der Hohepriester des Fotojournalismus, zitiert. Sein Porträt zweier Berliner Vertreter des Fahrgastgewerbes aus dem Jahr 1932 mag nicht ausschlaggebend gewesen sein für diesen Wunsch. Finster blickend, die Kappen tief ins Gesicht heruntergezogen, scheinen die beiden Männer auf den Fotografen zuzukommen, als wollten sie ihn an der Aufnahme hindern. Die Äußerung war wohl eher metaphorisch gemeint. Herausgeschickt zu werden zu immer neuen Zielen, statt Untergebener eines einzigen Auftraggebers zu sein. Um diesen Anspruch an die eigene Arbeit als Fotograf zu erfüllen, gründete Cartier-Bresson mit seinen amerikanischen Kollegen David Seymour und Robert Capa die mittlerweile legendäre Fotoagentur Magnum Photos. Von den frühen 1930er-Jahren bis in die Mitte 1970er-Jahre war er in eigener Sache und zwei Jahrzehnte für Magnum rund um die Erde unterwegs und etablierte die dokumentarische Fotoreportage als künstlerische Form.

Nun wird Henri Cartier-Bresson für den Input seines Auges und den Output seiner Leica, die er als technische Verlängerung des Sehorgans begreift, mit einer Ausstellung im Martin-Gropius-Bau geehrt. Robert Delpire, Verleger, Direktor der Foundation Henri Cartier-Bresson und langjähriger Freund des Künstlers, hat die Schau kuratiert. Mehr als 350 Fotografien, einige Filme, Bücher, Originalreportagen in Zeitschriften, Zeichnungen und Gemälde zeigt die Retrospektive sowie zahlreiche Memorabilia aus dem Privatfundus des selbst äußerst kamerascheuen Künstlers. Beim Gang durch die Stationen der Ausstellung, Europa, Amerika und Fernost, Porträts und Landschaften, Sowjetunion, Mexiko und Mittlerer Osten; die Klassiker, Vintage Prints und das zeichnerische Spätwerk, denn 1973 fotografiert er nur noch sporadisch, begibt man sich auf Zeit- und Weltreise. Der inzwischen 96-jährige Cartier-Bresson war überall dabei, hatte sie alle vor der Linse. Künstler und Literaten, von Alberto Giacometti bis Henri Matisse, von Ezra Pound bis Igor Stravinsky. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Krönung in England, Freiheitsbewegung in Indien, die ersten Tage des Kommunismus in China. Sein Augenmerk galt dabei immer den Menschen in ihrer sozialen Umgebung. Aus Vorsicht nicht zum Paparazzo zu werden, bleibt er häufig an der Oberfläche. Spielende Kinder an der Berliner Mauer, in Sevilla und Manhattan, Prostituierte in Spanien und Mexiko, Arbeiter in Bremen und Schanghai. Manchmal lässt er seine Nähe zum Surrealismus durchblicken, wenn er in den Alltagssituationen das Zufällige und Komische festhält. Etwa den elegant gekleideten Herren vor der imposanten Gebirgs- und Seenkulisse Armeniens, der ein Kleinkind auf einer Hand balanciert. Auf einer Amerikareise fotografierte er ein Kreuz, auf dem Jesus’ baldige Wiederkehr verkündet wird. Die Erdhügel zu Füßen des Kreuzes sind jedoch keine frisch aufgeschütteten Gräber, sondern die Ausläufer des Autofriedhofs im Hintergrund. Manche Fotografien gingen ins kollektive Bildgedächtnis ein; wie der Mann, der über eine riesige Pfütze springt und dabei aussieht, als könne er über das Wasser gehen. Oder Jean-Paul Sartre, Pfeife rauchend auf einer Seine-Brücke. Oder William Faulkner kurz vor seinem Tod. Oder Matisse …! Die ikonische Qualität der Fotos birgt aber auch eine Gefahr. Versteht man die Aufnahmen als Sinnbilder der dargestellten Orte, Situationen oder Personen, werden sie schnell zu Klischees. Cartier-Bresson zielt jedoch auf die Vereinigung von Form und Inhalt eines Augenblicks. „Für mich ist Fotografie die im Bruchteil einer Sekunde sich vollziehende Erkenntnis von der Bedeutung eines Ereignisses und gleichzeitig die Wahrnehmung der präzisen Anordnung der Formen, die dem Ereignis seinen typischen Ausdruck verleihen.“

Nicht ohne Koketterie hat Cartier-Bresson 1952 postuliert, was eine Fotografie ausmacht: der entscheidende Augenblick. Denn dieser Moment markiert nur den Zeitpunkt, wenn es „klack“ macht. Tatsächlich muss der Fotograf aber die Geometrie des Objekts oder des Ortes, seine Lichtverhältnisse, seine inhärente Komposition aufgespürt haben. Das Sehen ist die Grundlage, der Rest bloße Technik. Die Vorausahnung dessen, was passieren wird, macht erst die Entscheidung möglich, im richtigen Moment auszulösen. Stimmt alles, entstehen Schnappschüsse, von denen Millionen Hobbyfotografen träumen. Bei Cartier-Bresson stimmte oft alles.

Bis 15. August im Martin-Gropius-Bau, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 78 €, in der Ausstellung 49,80 €