Wuchernde Systeme

Effizienzgedanken sind unmenschlich. Das treibt den Dramatiker Falk Richter um, der dazu gleich vier Stücke an der Berliner Schaubühne herausgebracht hat. Ein Labyrinth, aus dem keiner entkommt

VON SIMONE KAEMPF

Der Politikvertreter ist auf der Bühne sofort herauszuhören. Jede seiner Floskeln ist eine Brücke über den Abgrund der Wahrheit. Mit missionarischem Eifer und gelangweiltem Selbstbewusstsein redet er von unmittelbarer Bedrohung durch Terroristen, unrechtmäßigen arabischen Kämpfern und der versprochenen Demokratie für die Welt draußen. Das Draußen bleibt in der Uraufführung von Falk Richters und Marcel Luxingers Stück „Hotel Palestine“ abstrakt, wir aber sind jetzt drinnen: im Zentrum der politischen Semantik, auf einer Pressekonferenz in einer Hotellobby, wie man sie sich auch in Bagdad während des Krieges vorstellen kann.

Journalisten, Politiker, Pressesprecher: Jeder weiß etwas über die Zusammenhänge und wirtschaftlichen Interessen des Irakkriegs. So wird mit jedem neuen Sprachansatz die Erwartung genährt, dass Politik an diesem Ort Rechenschaft ablegt, dass sich gleich die wahren Interessen hinter allem enthüllen. Doch jede Rede, das ist das Gemeine an Falk Richters Text, gleitet irgendwann in eine Rhetorik über, die jeden Angriff, jeden Fakt, jede berechtigte Kritik ohne das leiseste Knirschen in sich zersetzt.

„Hotel Palestine“ ist der vierte und letzte Abend einer Projektreihe an der Berliner Schaubühne, die der Dramatiker und Regisseur Falk Richter initiiert hat, und die jetzt am Ende doch noch zu sich gekommen ist: Mit Verdichtung statt reiner Vorführung und mit schärfer werdenden Konturen hat sie sich losgelöst von der schwammigen Ursprungsidee, „unsere Art zu leben“ zu ergründen. Die warf gleich zu Anfang Fragen auf wie: Wer ist dieses „wir“? Und wie kann man das System distanzierend beobachten, zu dem man sich zugehörig fühlt?

Doch die Frage nach dem „wir“ überholte bereits das zweite Stück „Unter Eis“, die am besten gelungene Inszenierung der Reihe, passend zu der These der neueren Soziologie, dass jeder Einzelne seine eigene Gruppe bildet. Für den Unternehmensberater Paul Niemand, hervorragend abwesend gespielt von Thomas Thieme, existiert keine Außenwelt mehr. Angesichts seiner Entlassung kommt ihm seine Kindheit wieder in den Sinn und wird so gegenwärtig wie die Erlebnisse aus der Firma, für die er jahrelang gearbeitet hat. Ein Labyrinth, aus dem er nicht mehr herausfindet. Seine Sehnsucht, sich selbst wieder als soziales Wesen zu spüren, scheitert weniger am Hauen und Stechen von außen als an den Selbstansprüchen. „Unter Eis“ zielt nicht auf eine Rekonstruktion des Individuums. Richter beschreibt vielmehr die Kollision von Systemen ebenso wie der Schutzmechanismen dagegen.

Von der Erkenntnis, dass der Feind Nummer eins in einem selbst sitzt, werden die Kreise wieder größer gezogen. „Das würde die Truppenmoral schon sehr schwächen, wenn die Soldaten begreifen würden, dass ihr größter Feind das Militär selbst ist“, sagt eine Pressevertreterin in „Hotel Palestine“.

Uranmunition, Friendly Fire, der Beschuss des Bagdader Hotels oder die Tatsache, dass ein und dieselbe Unternehmensberatung Konzepte für die Regierung und die Opposition entwerfen darf – man spürt geradezu körperlich, wie solche Informationen den Dramatiker und Regisseur Falk Richter in ein fiebriges Unbehagen versetzen. Er zeigt unter den Theatermachern das größte Interesse dafür, dass heute, der Informationsgesellschaft zum Trotz, immer weniger verstanden und umso hysterischer reagiert wird. Die Schaubühnenreihe ist sein lang vorbereiteter Versuch, ein System unterschiedlicher Zugriffe auf der Bühne zu entwickeln, um dieses Unbehagen nicht nur von einer Seite abzubilden.

Themenfelder sind abgesteckt: die Liebe in Zeiten flexibler Arbeitsverhältnisse oder die Politik. Die Verschärfung der Krise inszenierten Richter und seine Regiepartner auch als ästhetischen Angriff und Überforderung der Sinne: Surreale Videoprojektionen von Bürofassaden, Nachtsichtaufnahmen und anschwellende Klangflächen erzeugen Ortlosigkeit und Verunsicherung. In „Electronic City“, von Tom Kühnel in Szene gesetzt, entpuppt sich das Liebespaar Joy und Tom, das sich ständig zwischen Flughäfen und Businesshotels verliert, nach den ersten Szenen als Kopfgeburt von vier Filmleuten, die sich ein Drehbuch über ein viel beschäftigtes Liebespaar ausdenken. Wirklichkeit ist immer nur ein mögliches Bild, das wir uns von ihr machen.

Welche Geschichten, Hirngespinste, Ansichten und Fiktionen stecken unter dem Sichtbaren? Die Ausbeute der Abende bleibt letztlich mager. Das extrovertierte Ausbreiten der medialen Oberflächen offenbart nicht zwangsläufig mehr von den Dingen, die darunter liegen.

Dass man dennoch gefesselt wird von den Texten, das schaffen dann doch wieder die Schauspieler. Wie Mark Waschke als Berater Sonnenschein direkt zu den Zuschauern spricht, offenbart in wenigen Augenblicken die faschistoiden Züge der Effizienzgedanken und der Ökonomisierung. Jedem einzelnen Satz könnte man zustimmen, und doch ist ihre Summe furchtbar: Kein Platz für den Menschen, der sich nicht trägt.

Eine schöne Veranschaulichung dafür, dass der Mensch als Einzelfall gegen die Logik des Systems nicht ankommt. Was das System aber wirklich ausmacht, bleibt auch nach vier Folgen ein großes schwarzes und mächtig leeres Loch.