Ein Mann geht seinen Weg

Von einem, der aufbricht, frischen Wind in die Provinz zu bringen: Andreas Dresens Dokumentarfilm „Herr Wichmann von der CDU“ porträtiert einen Bundestagskandidaten auf verlorenem Posten

Man erhebt sich, singt die Hymne, am Straßenrand stehen zwei blonde Kinder

von CRISTINA NORD

Der Held ist ein junger Mann, hoch gewachsen und schlaksig. In seinem Körper scheint er noch nicht angekommen zu sein, obwohl er 25 Jahre alt ist, bald Vater wird und nach Höherem strebt: nach einem Bundestagsmandat. Henryk Wichmann ist der Direktkandidat der CDU im Landkreis Uckermark, im Norden Brandenburgs. Eine abgelegene Region; viele Seen, Frösche und Wälder gibt es, doch wenig Industrie. Die CDU hat hier noch nie eine Wahl gewonnen. Wichmann verdrießt das nicht. Unermüdlich verspricht er frischen Wind, ein neues Gesicht und Aufbruch, wo bislang sanft die Alleebäume rauschen.

Andreas Dresens Dokumentarfilm „Herr Wichmann von der CDU“ führt zurück in den vergangenen Sommer, in die Wochen vor der Bundestagswahl. Dresen begleitet seinen Helden bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Angela Merkel, bei einem Besuch im Altersheim, bei einer Diskussion mit Jugendlichen. Immer wieder sieht man Henryk Wichmann, wie er in Fußgängerzonen oder vor Einkaufszentren versucht, den Passanten sein Progamm zu vermitteln.

„Ich wähle die Reps“, wehrt ihn ein Familienvater ab, „ich bin rechtsradikal.“ Eine ältere Frau sagt: „Die Ausländer müssen raus.“ Statt sich gegen das Ressentiment zu verwahren, nimmt Wichmann daran teil, indem er dem Monolog der Passantin einen eigenen, etwas milderen zur Seite stellt. Später einmal sagt er einem älteren Herrn, der sich mit Hilfe von Krücken fortbewegt: „Ich würde Ihnen ja gerne meine Broschüre geben, wenn Sie eine Hand frei hätten.“

Dresens Kunst besteht aus zwei Dingen: Zum einen gewinnt sein Film dem provinziellen Stillstand einen narrativen Bogen ab. Einer zieht aus, ein Ziel zu erreichen, viele Widernisse stellen sich ihm in den Weg, er meistert sie weniger mit Geschick denn mit Sturheit. Die Aussichtslosigkeit des Unterfangens tritt immer deutlicher zutage. In dem Maße, in dem der Spannungsbogen abflacht – gewinnt Wichmann, gewinnt er nicht? –, schält sich aus dem Film die Geschichte eines Sisyphus heraus.

Die andere Seite von Dresens Kunst ist damit eng verwoben. Obwohl man Wichmann keine Sympathie entgegenbringen will, liefert der Film seinen Protagonisten nicht aus. Wie leicht wäre es zuzulassen, dass sich Wichmann im Netz seines Populismus und seiner dumpfen Rhetorik verstrickte! Die Häme des Zuschauers wäre ihm gewiss, und Dresen hätte die Lacher auf seiner Seite. Doch dem Regisseur liegt an einer anderen Position. Weder führt er seinen Helden vor, noch biedert er sich ihm an. Die Kamera steht meist entfernt vom Geschehen. Wichmanns Gestalt wird in einen Kontext gerückt; statt sich zu einem Psychogramm zu verengen, weitet sich „Herr Wichmann von der CDU“ zur Beschreibung eines Zustands.

Dabei entwickelt der Film große Sensibilität für die Momente, in denen etwas hergestellt wird: An einem Wahlkampfauftritt interessiert Dresen nicht das Ergebnis, sondern die Vorbereitung, und wenn er filmt, wie Wichmann einen Wahlkampfspot aufnehmen lässt, geht es nicht um das telegene Produkt, sondern um den Weg dorthin: etwa um die Hände, die zunächst zu heftig gestikulieren und deren Bewegungen unterdrückt werden müssen, damit die Erscheinung im TV-Spot stimmt. Die fertigen Dinge und Ereignisse – seien es Wahlkampfposter, sei es ein Auftritt an der Seite von Jürgen Rüttgers – haben eine Geschichte. Ihr gilt Dresens Neugier; ihr gilt der nüchterne Blick von Andreas Höfers Kamera.

Zweimal kommt es dabei zu jenem moment juste, in dem sich die abgefilmte Situation so verdichtet, dass man der Verwerfungen menschlicher Existenz gewahr wird. Einer dieser Augenblicke ereignet sich an einer Imbissbude. Es ist später Abend, man hat das eine oder andere Bier getrunken, die eine oder andere larmoyante Phrase geäußert. Jemand schlägt vor, die Nationalhymne anzustimmen. Man erhebt sich, singt, am Rand der Szenerie stehen zwei Kinder, zufälligerweise sind sie blond, zufälligerweise halten sie Fackeln in den Händen. Kann es unschuldigen Nationalstolz geben? Dresens Nachtstück wirft diese Frage auf, verneint sie und registriert im selben Augenblick, dass ein Verlangen nach solcher Unschuld besteht.

Der zweite, stärkere Moment ereignet sich, wenn Dresen an Wichmanns Seite ein Altersheim besucht. Der Protagonist kann gerade noch fragen, was es zum Mittagessen gab, dann tritt er an den Rand des Geschehens. Zu stark sind die Erzählungen der Alten, zu offensichtlich ist ihre Einsamkeit, zu deutlich ihr Ausgemustertsein, als dass der frische Wind, den Wichmann mit jugendlicher Unbeholfenheit verspricht, noch von Belang sein könnte. Dresen und sein Team lassen sich von der Situation an der Hand nehmen. So begeben sie sich auf die Rückseite der präsentablen Dinge und Ereignisse, dahin, wo Sterblichkeit, Verlust und Vergeblichkeit sich nicht leugnen lassen. Und das ganz ohne den Furor, das Marginale sichtbar zu machen.

„Herr Wichmann von der CDU“, Regie: Andreas Dresen. Deutschland 2003, 80 Minuten