Der Staat zwischen den Fronten

Zelte und zusätzliche Lebensmittel von den UN – die Familien sollen für den Krieg Vorräte anlegen

aus Erbil JÜRGEN GOTTSCHLICH

Ab und zu hebt der Junge den Kopf und schaut von einem zum anderen. Oliver Kahn und David Beckham, der deutsche Torwart und der englische Mittelfeldstar. Im Großformat hängen die Poster der Fußballer an der Mauer hinter dem Stand eines Straßenverkäufers. Es herrscht heftiges Gedränge, aber der Junge lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er blättert einen Stapel glänzender Fußballbilder durch, entscheidet sich dann für Beckham im Großformat. Langsam zählt die Mutter ein paar Dinar in die Hand des Straßenverkäufers, der Junge strahlt.

Alltag in Erbil, der Hauptstadt jenes Quasistaates, den sich die Kurden im Nordirak Anfang der 90er-Jahre mit Hilfe der US-Luftwaffe erkämpften. Durch dieses Gebiet würden die Amerikaner von der Südtürkei aus marschieren und eine Front gegen Bagdad aufbauen – wenn es Krieg gibt und wenn die Türken mitmachen. Noch ist von einem bevorstehenden Krieg kaum etwas zu spüren. Auch der Fußball, die größte Leidenschaft von Kurden wie Arabern im Irak, ist nicht verdrängt worden.

Neben den Fußballstars steht ein Tisch mit Kleinkram für den täglichen Bedarf, dann kommen Lebensmittel und Zigaretten. Die Straße ist eine der Hauptadern in der quirligen Stadt, in der rund eine halbe Million Menschen leben. Sie führt am Basar vorbei und ist deshalb von fliegenden Händlern überfüllt. Wer Geld hat, muss in Erbil kaum auf etwas verzichten. Die Lebensmittelläden sind gut sortiert, der Basar bietet von Truthähnen über Teppiche, Fernseher und Computer fast alles, was dem Standard in Damaskus oder Kairo entspricht. Nur das Geld ist bei der Mehrheit der Leute etwas knapper als in anderen Städten im Nahen Osten.

Das kurdische Gebiet wird von zwei großen Parteien dominiert, die sich das Land auch geografisch geteilt haben. Die Region entlang der türkischen Grenze ist die Einflusszone des Barsani-Klans, der die Kurdische Demokratische Partei kontrolliert. Entlang der iranischen Grenze herrscht Jelal Talabani mit seiner Patriotischen Union Kurdistan. Erbil liegt zwar innerhalb des von Barsani kontrollierten Gebiets, ist aber Sitz des Parlaments und der so genannten Ministerien, gilt also als gemeinsames Zentrum. Neben den beiden großen Parteien gibt es noch etliche Splittergruppen, die das Land unsicher machen. Dazu kommt, dass sich nach dem Ende des Bürgerkrieges in der Türkei mehrere tausend Bewaffnete der PKK in den Nordirak zurückgezogen haben und Gebietsansprüche stellen. Das gilt auch für eine islamistische, von Afghanistankämpfern dominierte Gruppe.

Dass in Erbil keine Vorkriegspanik herrscht, hat auch damit zu tun, dass den Menschen nichts anderes übrig bleibt, als abzuwarten. Das Land verlassen können die wenigsten, denn kaum jemand hat einen gültigen irakischen Pass, und die kurdische Autonomiebehörde kann keine Papiere ausstellen, da sie international von niemandem anerkannt ist. Obwohl die materielle Not nicht so groß ist und die UNO dafür sorgt, dass auch die Ärmsten nicht hungern müssen, sind viele nach elf Jahren de facto autonomem Kurdistan von der unsicheren Situation so zermürbt, dass sie unbedingt wegwollen.

Für die meisten, die das von den Kurden kontrollierte Gebiet verlassen, führt der Weg immer noch in den anderen Teil des Irak. Eine der wichtigsten Verbindungen ist die Straße von Erbil nach Mosul. Die autobahnähnliche Piste ist gut befahren. Nach 30 Kilometern durch karges Hügelland von Erbil kommend, erreicht man das Städtchen Kalak. Kalak liegt am Zap, dem größten Fluss im irakischen Kurdistan, über den hier eine Brücke Richtung Mosul führt. Hinter der Brücke herrscht Saddam.

Trotzdem passiert ein Fahrzeug nach dem anderen die Kontrollen der kurdischen Milizen und setzt seine Fahrt nach kurzer Unterbrechung in Richtung Mosul fort. Aus entgegengesetzter Richtung kommen hauptsächlich Kleinlaster, die Benzinkanister geladen haben. Täglich sollen bis zu 50.000 Leute die Waffenstillstandslinie überqueren, die meisten Fahrzeuge transportieren Treibstoff in die kurdischen Gebiete. Es gibt zwar keine regulären Tankstellen in Erbil, dafür wird aber an jeder zweiten Ecke Benzin aus Kanistern verkauft. Eine 15-Liter-Ladung kostet 3 Dinar, und erst 8 Dinar machen 1 Euro.

Die Posten der Kurdischen Demokratischen Partei, die den so genannten Grenzübergang kontrollieren, geben sich lässig. Ein kurzer Blick auf ein paar Papiere, und der Weg nach Mosul und Bagdad ist frei. Eine etwas abseits liegende Behelfsbrücke dürfen auch ausländische Journalisten passieren und noch ein paar Kilometer weiter an die irakischen Stellungen heranfahren. Von Spannungen ist auch hier nur wenig zu spüren. Die Menschen in den Dörfern beachten die irakischen Soldaten kaum. Allen Kriegsdrohungen zum Trotz haben sie begonnen, ihre Felder unmittelbar an der Waffenstillstandslinie zu bestellen. Berichte, nach denen Saddam seine Truppen entlang der kurdischen Grenze verstärkt hat, kann man per Augenschein nicht bestätigen. Innerhalb der irakischen Stellungen, die auf einer Hügelkette, vielleicht einen Kilometer entfernt, liegen, ist keinerlei Aktivität auszumachen.

Am ehesten spürt man das drohende Unheil in dem Flüchtlingslager Banslawa, ungefähr zehn Kilometer von Erbil entfernt. In Banslawa leben hauptsächlich kurdische und turkmenische Flüchtlinge, die Saddams Schergen aus Kirkuk und Umgebung vertrieben haben. Kirkuk ist die Ölhauptstadt nördlich von Bagdad. Das Öl, das hier gefördert wird, zählt zum qualitativ besten der Welt. Seit Jahren geht Saddams Regime in Kirkuk gegen alles Kurdische vor, vor allem um zu verhindern, dass die Kurden Ansprüche auf die Region stellen können.

Die Opfer dieser Politik leben in Banslawa. Einer von ihnen ist Ferhat Muhammad Kerim. Der junge Mann scheint zunächst so etwas wie der Dorftrottel des Lagers zu sein – ein Plagegeist, der sich Besuchern ungebeten aufdrängt und unzusammenhängendes Zeug erzählt. Aber wenn er sein zerrissenes Hemd hochhebt, versteht man seine Verwirrung. Vom Brustkorb an abwärts ist sein Körper durch Brandnarben entstellt. Ferhat wurde von einem der vielen Geheimdienste in Saddams Reich gefoltert. In den Zellen der Sicherheitspolizei in Kirkuk gossen sie ihm Benzin auf den Leib und steckten ihn in Brand.

Elf Jahre existiert das de facto autonome Kurdistan – viele sind von der Unsicherheit zermürbt

Das Flüchtlingslager Banslawa existiert bereits seit mehreren Jahren. Die Leute hausen in Hütten oder alten Zelten, die im Winter nicht vor Regen und Schnee schützen und im Schlamm schier versinken. Im Sommer ist es zwar trocken, doch dafür verwandelt die Sonne das Lager in eine stinkende Kloake, weil die Abwässer in offenen Gruben neben den Hütten verdunsten. Seit die USA Saddam mit einem neuen Krieg drohen, sind wieder mehr neue Leute gekommen, ein Zeichen, dass der Druck auf die verbliebene kurdische und turkmenische Bevölkerung noch erhöht wurde. Im Lager Banslawa herrscht, anders als in den Straßen von Erbil, Not. Ernährt werden die Menschen von der UNO, die hier, wie im gesamten von den Kurden kontrollierten Gebiet, Lebensmittelrationen aus dem Geld des „Oil for Food“-Programms an jede Familie verteilt.

Überhaupt hat man den Eindruck, dass das Gebiet längst eine Art UN-Protektorat ist. Fast an jeder Ecke stehen blaue Schilder, sie weisen darauf hin, dass die UN hier ein Telekommunikationszentrum baut, Brücken instand setzt oder Lebensmittellager unterhält. Der kleine Vorort von Erbil, Ankawa, ist praktisch zum UN-Distrikt geworden. Zehn UN-Organisationen sind hier vertreten, von Unicef bis zum UNHCR alles, was der New Yorker Apparat zu bieten hat. Darüber wacht ein Koordinierungsbüro. Allerdings stehen die UN-Vertreter für Fragen nicht zur Verfügung. Die Chefs sitzen in Bagdad und haben ihren Repräsentanten im kurdischen Norden ein Auskunftsverbot erteilt. Sie wollen auf keinen Fall bei Saddam anecken, sondern sich neutral verhalten.

Kurdische Mitarbeiter der UN sind dagegen weniger zurückhaltend. Mustafa Idris, der im Koordinierungsbüro arbeitet, erzählt freimütig, dass bereits Zelte und Lebensmittel bereitgestellt wurden, um zukünftige Flüchtlinge zu versorgen. Die Lebensmittelausgabe an alle Familien wurde erhöht, damit sie sich einen Vorrat für die Kriegszeit anlegen können. Für die internationalen UN-Mitarbeiter sind bereits sichere Ausweichquartiere in den Bergen vorbereitet worden. Doch vorerst wollen alle in Ankawa bleiben.

Ankawa war vor der Landnahme durch die UN überwiegend von Christen bewohnt. Anders als in Erbil und dem Rest Kurdistans kann man deshalb hier fast an jeder Ecke Bier, Wein und Whisky kaufen. Die Alkoholknappheit würde sich nach der „Befreiung“ eher noch verstärken, denn im Entwurf für eine Verfassung hat letzte Woche die Konferenz der irakischen Oppositionsgruppen ausdrücklich den Islam als Staatsreligion und die Scharia als Basis der Rechtsprechung festgeschrieben.

Schon jetzt bestimmt der Islam den Rhythmus des Lebens in der Gegend. Noch im kleinsten Dorf steht eine Moschee. Der Freitag ist der islamische Feiertag und damit Tag für Familienausfllüge. Im dichten Stau ruckelt man die Straße hinauf und hinunter, die Familien grüßen sich von Auto zu Auto und genießen den freien Tag. Am Freitag vergangener Woche zog es die meisten männlichen Familienmitglieder jedoch zu einem anderen Ereignis. Ganze Männermassen rannten nach der Moschee, zu einem Platz am Stadtrand von Erbil, wo sich Kurden und Araber in einem Duell gegenüberstanden. Die Fußballmannschaft von Erbil spielte gegen Bagdad. Die Kurden gewannen.