Über alle siegt der Alpendialekt

Philip Tiedemann inszeniert „Die Bergbahn“, ein frühes Horváth-Stück, am Düsseldorfer Schauspielhaus

Wenn das Bühnengebirge im Düsseldorfer Schauspielhaus zum ersten Mal rotiert, öffnet sich der Blick auf ein exquisites Tableau. Links wabern vorbildlich gestaffelte Trockeneisnebel, und aus der Tiefe der Bühne wächst ein schwarzer Grad in Stufen empor. Den Zacken und Wirbeln steht rechts eine massive Wand gegenüber, von deren Dunkel sich wiederum zwei Lichtinseln abheben: Ein Spot liegt auf zwei Gestalten in Beige und Grau, die einen Vorsprung in mittlerer Höhe erklommen haben, und ganz rechts leuchtet am Fuß der Wand ein Bauwagen im dezenten Silber eines alten Greyhoundbusses.

Das Bühnenbild von Etienne Pluss kann noch mehr: Enge erzeugen, bis über der Steilwand nur ein Streifen Luft bleibt, oder einen weiten, einsamen Abhang. Sogar epische Verfahren beherrscht es: Etwa zur Halbzeit des Abends kommen eine Windmaschine und jene Ritzen zum Vorschein, aus denen der Nebel quillt. Die Alpenillusion ist doch nur ein wohlfeiler Trick, zwinkert die Maschinerie, und doch schaudert’s einen, wenn gleich darauf die Ventilatorenflügel die milchige Luft zu Unwetter schlagen oder die Kegel von Bergsteigerlampen durch den Zuschauerraum fingern. Für Etienne Pluss und Hans-Joachim Börensen, der für Morgen-, Winter- und Blitzlicht zuständig ist, bietet „Die Bergbahn“ von Ödön von Horváth eine dankbare Grundlage: Für die Bahn braucht es halt einen Berg, für die Symbolik ein Gewitter und für die Bergbahnarbeiter nicht nur eine Baracke, sondern auch einen Abgrund zum Hinunterstürzen. Doch den Regisseur hat offenbar niemand gefragt. Philip Tiedemann, der bei Claus Peymann in Wien und Berlin bekannt geworden ist und jetzt zum ersten Mal in Düsseldorf arbeitet, weiß mit dem Text wenig anzufangen. Das frühe Stück, mit dem Horváth seine Bemühungen um das Volkstheater beginnt, bietet in der Tat keinerlei Überraschungen. Geradlinig konstruiert, schildert es 24 Stunden auf einer Seilbahnbaustelle. Raue Kerle schuften unter rauesten Bedingungen, ein Neuling verunglückt, es kommt zum Konflikt mit dem Ingenieur, der erst zur Eile antreibt und dann, weil das Wetter umschlägt, alle entlässt. Das Resultat: ein paar Tote – teils am Felsen zerschmettert, teils vom Ingenieur erschossen – und ein paar Arbeitslose mehr. In den Dialogen konkurrieren Gewinn- und Ruhmsucht mit Versatzstücken aus Bibel und „Kapital“. Über alle siegt der Alpendialekt.

In den Grabenkämpfen der 1920er hatte die „Bergbahn“ zweifellos ihren Platz, aber zwischen Ich-AGs und Heizlüfter-Unglücken wirkt sie museal. Das Programmheft bemüht zwar Autoren der aktuellen Kapitalismuskritik, es wird gar eine Parallele zwischen der Mundart der Horváth-Proleten und der aktuellen Immigranten-Kunstsprache des Feridun Zaimoglu behauptet. Aber bei derart gewagten Unternehmungen macht Philip Tiedemann nicht mit. Er hält den Text auf Distanz. Ganz zu Beginn verdeckt ein überdimensionales Filmplakat die Sicht auf die Bühne: „Die Bergbahn“ steht da – in der Manier der Mitte des vergangenen Jahrhunderts – über einem adrett gepinselten Bergpanorama.

Das dramatische Geschehen selbst ist als Karikatur gezeichnet. Jede Geste ist groß, das Tempo gering. Schwer treffen die Stiefel auf das Bühnengebirge, lang dehnen sich die Sprechpausen, gewaltig kneten die Kiefer jedes „e“ zu einem alpenländischen „ä“. Die Schauspieler dürfen immer nur eins, entweder reden oder handeln, aber nicht beides zugleich. Die Eigenschaften der Figuren müssen sie schön deutlich anzeigen. Als Veronika, Köchin der Arbeiter, streckt Steffi Krautz ihr Dekolletee wie einen Skipass vor – was für ein dralles Madel! Als Moser, ihr Geliebter, hält Michael Fuchs seine muskulöse Schulter ins Licht – was für ein Kraftmensch!

Man ahnt einen Regiegedanken: Soziale Frage plus Bergfilm plus spätkapitalistischer Spott könnte immerhin Trash ergeben. Könnte lustig sein. Ist aber fad. Zwei Stunden starre Blicke, Sprachhemmungen und schicksalsschwere Schritte dauern lang. Eine Dauerzeitlupe ist nicht das Timing, das Lacher provoziert. Selbst wenn der Unterhaltungswert größer wäre: Man muss nicht unbedingt ein schutzloses Frühwerk, das niemandem etwas getan hat, aus der Vergessenheit zerren, um etwas Spaß zu haben. Letztlich hat die Inszenierung nur das zu bieten, was Horváth im Titel eines anderen, eines Erfolgsstücks, annonciert: eine schöne Aussicht.

MORTEN KANSTEINER