Nicht ganz sattelfest

Adieu, Country Home: Nashville-Sirenen wie Shania Twain, Faith Hill und LeAnn Rimes versuchen sich heute als Pop-Starlets. Auf dem Weg in neue Absatzmärkte droht dem Genre der Identitätsverlust

von THOMAS WINKLER

Nashville, was ist aus dir geworden: In der Schweiz lebende, von Briten produzierte Kanadierinnen dominieren die Country-Charts. Das klassische Modell der Sängerin, die Glück in Kirche und Küche besingt, während ihre weiblichen Reize nur notdürftig von über dem Bauchnabel verknoteten Flanellhemden zusammengehalten werden, wandert zusehends auf den Müllhaufen der Popgeschichte. An den Rändern des Genres haben Lucinda Williams oder Trisha Yearwood, gestützt auf die Pioniertaten von Dolly Parton oder Emmylou Harris, lange schon mit den Abrissarbeiten begonnen. Zwar repräsentieren weiterhin Namen wie Tammy Wynette oder Loretta Lynn dieses Sinnbild der guten alten amerikanischen Werte, aber nun scheint sich auch in Nashville eine Befreiung des Frauenbildes auf breiter Front durchzusetzen.

Als Erste hat die Kanadierin Shania Twain Ende der 90er diese Entwicklung angestoßen, indem sie so erfolgreich das gesamte Spektrum zwischen einem eher hausfräulichen Country-Image und einem urbaneren Vamp-Auftritt bediente, dass sie weltweit geschätzte 40 Millionen Platten verkaufte. Mit „Up!“ wird dieser Spagat nun systematisiert. Um keine potenzielle Zielgruppe frustriert zurückzulassen, hat Twains britischer Ehemann, Manager, Songschreiber und Produzent Robert „Mutt“ Lange das Album in drei verschiedenen, farblich gekennzeichneten Versionen abmischen lassen. Rot steht für einen eher rockigeren Zugang zum Material, auf der blauen CD finden sich exakt dieselben 19 Songs mit einem Schwerpunkt auf Tanzbodenfüllern. Aus dem Netz herunterladen kann man sich schließlich auch noch die grüne Alternative mit einem „downhome western feel“. Je nach Markt erscheint „Up!“ nun in der passenden Farbkombination, in den USA natürlich die Country- und die Rock-Version.

Tatsächlich aber sind die drei verschiedenen Abmischungen nicht allzu unterschiedlich: Zwischen Songs, die eindeutig von Abba geklaut sind („C’est La Vie“), über indisches Geflirre und flotte Dance-Beats bis zu breitärschigen Rockballaden spürt man vor allem den unbedingten Willen, ein weltweit kompatibles Produkt zu erschaffen, sucht aber weitgehend vergeblich nach dem Ausgangspunkt Country. Im Videoclip zur aktuellen Single „I’m Gonna Getcha Good“ lässt sich Twain, die vor nicht einmal zehn Jahren noch allein mit ihrer Gitarre durch kleine Clubs tingelte, von Rammstein-Lookalikes begleiten und jagt als sinistres Latexlederweib auf einem Motorrad durch ein düsteres Gotham.

Lange hat seine Gattin zum perfekten Popprodukt designt, ebenso glatt poliert wie beliebig, das vielleicht eben deswegen noch auf seinen Durchbruch auf dieser Seite des Großen Teichs wartet – trotz eines ersten kleinen Hits wie „That Don’t Impress Me Much“ vor drei Jahren.

Auch Faith Hill, mit mehr als acht Millionen verkauften Einheiten ihres 99er Werks „Breathe“ in Nordamerika kaum weniger erfolgreich als Twain, muss sich vom Kritiker der Los Angeles Times anlässlich ihres neuen Albums „Cry“ die Frage gefallen lassen, wozu man diese Platte brauche, wenn man bereits Celine Dion hat. Begonnen hatte Hill, die auf der Verpackung von „Cry“ mit schweißnassem Dekolletee posiert, ihre Karriere noch als Liebling der Country-Traditionalisten, musste aber bereits für „Breathe“ arge Kritik einstecken und gibt seitdem Mary J. Blige, U2 oder Edith Piaf als Einflüsse an. Ihr fünftes Album „Cry“ denkt die bislang nur begonnene Öffnung nun konsequent zu Ende: Mit fetten Funk-Gitarren statt Pedal Steel, modischen Elektro-Beats statt Squaredance-Fiedeln und Hills an Soul statt Jodeln geschultem Sopran katapultierte sich die Platte in der Woche ihres Erscheinens auf Platz eins nicht nur der Country-, sondern auch der US-Pop-Charts. „Cry“ ist Hochglanz-Poprock, Handwerk auf allerhöchstem Niveau, nur eines garantiert nicht mehr: Country.

Aber nicht nur die Mittdreißigerinnen wie Twain und Hill suchen die ihnen vom Nashville-Establishment gesetzten Grenzen auszuweiten. Selbst LeAnn Rimes, die ehemalige Stefanie Hertel des Country, ist nun auf dem Weg zum Pop-Starlet. Ihr neuestes Album „Twisted Angel“ beginnt mit einer Melodie, die von den Spice Girls vor nicht allzu langer Zeit noch problemlos an die Spitze aller verfügbaren Charts geprügelt worden wäre, unterlegt mit einem verklemmten kleinen Breakbeat, wie ihn Britney Spears vor vielleicht drei Jahren auf den dürftig bekleideten Leib programmiert bekommen hätte.

Auch das visuelle Erscheinungsbild der früher stets proper und pausbäckig präsentierten Rimes hat eine gewaltige Wandlung erfahren: Auf dem Cover ihres bereits achten Albums wirkt die immer noch erst 20-Jährige deutlich abgemagert und mit kajalumrandeten Augen wie das Drogenwrack ihres eigenen sauberen Images. Bei einigen der Songs hat das ehemalige Wunderkind gar selbst mitgeschrieben, produziert haben Fachleute, die zuvor für Ricky Martin, Bon Jovi oder Will Smith zuständig waren.

Solche Wandlungen dienen als wohl kalkulierte Imagekorrekturen auf dem Weg in ungleich größere Absatzmärkte. Bislang allerdings funktioniert der Crossover zu neuen Käuferschichten vorzugsweise auf dem nordamerikanischen Kontinent: Die Country-Klientel im Rest der Welt goutiert weiterhin nur die tradierten Klischees, die im Ursprungsland längst überholt sind, oder hört gleich lieber Americana, während das europäische Poppublikum genug damit zu tun hat, eine Flut von eigens für sie konstruierten Pop-Divas wie Sarah Connor oder Anastacia zu verkraften. So hat sich Country, wenn auch nahezu unbemerkt im Rest der Welt, mittlerweile so weit in den Mainstream vorgewagt, dass man erfolgreich Redneck- und Trucker-Klischees ablegen konnte. Nun aber läuft das Genre Gefahr, in postmoderner Beliebigkeit auch seine Identität zu verlieren.

Shania Twain: „Up!“ (Mercury/Universal); Faith Hill: „Cry“ (WEA); LeAnn Rimes: „Twisted Angel“ (Curb/WEA)