die wahrheit: Im Jahr des Ochsen: Lasst hundert Wackelblumen blühen!

Eine der Fragen, die man sich in China stellt, lautet: In welcher Zeit leben wir hier eigentlich? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten ...

... In einigen Teilen des Riesenreichs, speziell auf dem Land, lebt man sicher noch im Mittelalter. Die meisten Menschen in den Städten leben in der Gegenwart. Und betrachtet man einige öffentliche Gebäude wie den von Rem Kohlhaas entworfenen CCTV-Tower oder das neue Nationaltheater in Peking, das einem gelandeten Ufo gleicht, glaubt man, weit in die Zukunft katapultiert worden zu sein.

Geht es nach den Aufklebern auf den Autos, müssten wir allerdings gerade die Jahre 1968 folgend schreiben. Damals begann man in Europa damit, seine Pkws mit Stickern zu bepflastern. In China startete die Aufkleberitis im Herbst des vorletzten Jahres mit einer großen öffentlichen Verkehrserziehungskampagne. Der Öl-Konzern Sinopec und der Pekinger Stadtfernsehsender verteilten im Vorfeld der Olympischen Spiele 500.000 Aufkleber, auf denen eine stilisierte Ampel abgebildet war und auf dem "Glatt Fahren 2008" stand. Die Aufkleber wurden begeistert angenommen. Wer sich nämlich einen an die Heckscheibe oder den Kofferraum pappte und von Kamerateams des Fernsehens bei vorbildlichem Fahren gefilmt wurde, konnte Benzingutscheine gewinnen. Diese Kampagne erinnert an Aktionen wie "Hallo Partner! Danke schön!" aus den deutschen Siebzigerjahren.

Seit Anfang dieses Jahres tauchen nun an den in meiner Nachbarschaft geparkten Wagen die ersten ironischen Aufkleber auf. Einige sind auf Englisch und teilen dem Passanten mit, Bruce Lee oder Mickey Mouse würden mit im Wagen sitzen. Ein gewagteres Motiv zeigt ein stilisiertes Paar beim Sex; die Aufschrift lässt uns wissen: "We need sex." Einige Autobesitzer haben sogar damit begonnen, ihre Fahrzeuge mit Blumen zu bekleben, die ein bisschen an die berühmten Prilblumen erinnern, die ebenfalls kurz nach Achtundsechzig en vogue waren. Etwas aus dem Love-and-Peace-Rahmen fällt nur ein Bumpersticker auf Chinesisch: "Es gibt Bären hier. Pass auf!"

Wie um dieses bunte Retro-Bild abzurunden, hat sich in den letzten Monaten im ganzen Land geradezu explosionsartig ein Äquivalent zum Wackeldackel ausgebreitet, der ja ebenfalls in den Siebzigerjahren in Deutschland zur Standardausrüstung vieler Autos zählte. Nur handelt es sich in China hauptsächlich um Wackelblumen, die man auf der Konsole hinter der Windschutzscheibe platziert. Die Wackelblume wackelt mit ihren zwei Plastikblättern, die durch eine Fotozelle angetrieben werden. Das ist schon ziemlich öko.

Ich aber frage mich: Was passiert hier als Nächstes? Lassen sich alle lange Haare wachsen, führen wilde Reden und beteiligen sich an Straßenkämpfen? Das wohl weniger, schließlich gab es das schon alles in der einen oder anderen Form. Wahrscheinlich aber werden auch in China irgendwann alle nur dick und langweilig, erinnern sich dann zugleich sehr gern an eine irre Zeit, als ihre Autos ganz verrückte Aufkleber und - hihi - Wackelblumen zierten.

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kari

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