Die Wahrheit: Entfernte Verwandte

Als Frau Hammler die alte Frau Reibeis fragt, wieso sie neuerdings zweimal am Tag zum Einkaufen geht, erfährt sie, sie solle vor ihrer eigenen Türe kehren...

...und zieht ihren Mann zu Rate, der meint, sie solle froh sein, wenn die alte Kachel was zu tun habe. Man müsse sich, insistiert Frau Hammler, Gedanken machen, wenn eine wunderliche 95-Jährige plötzlich noch wunderlicher werde. Am Ende habe sie auf ihre alten Tage eine Blutinie und kotze die ganzen Lebensmittel unmittelbar nach Verzehr ins Klo, bis ihr eines Tages die Rente ausgehe. Er, sagt Herr Hammler, kriege eine Neuralgie, wenn er sich diesen Schmarrn anhöre.

Anderntags bemerkt seine Frau, wie eine junge Dame in der Wohnung von Frau Reibeis verschwindet, die selbst kurz darauf eintrifft, mit drei Taschen bepackt, und sagt, nein, Besuch habe sie nicht, allerdings sei ihre Urgroßnichte aus Nordrhein-Westfalen bei ihr eingezogen, was niemanden etwas angehe. Von einer Urgroßnichte, sagt Frau Hammler, habe sie noch nie etwas gehört.

Ihr Mann seufzt, wenn sie einen Schlaganfall kriegen wolle, solle sie nur so weitermachen. Abends sieht Frau Hammler die junge Dame in Begleitung zweier recht verwahrloster Herren die Wohnungstüre aufsperren.

Auf die Frage, ob sie auch noch zwei nordrhein-westfälische Urgroßneffen habe, gesteht Frau Reibeis, sie könne sich eigentlich an niemanden in Norddeutschland erinnern, weil sie dort noch nie gewesen sei, außerdem sei sie es leid, jeden Tag Unmengen Knabbergebäck hinauf zu schleppen, Schlafsäcke auszulüften, Aschenbecher zu leeren und leere Flaschen zu beseitigen, aber schließlich sei Blut dicker als Wasser. Frau Hammler ruft die Polizei.

Die Beamten sagen, das inzwischen überstürzt abgereiste Trio sei amtsbekannt und bereits in den letzten Jahren auffällig geworden, indem es sich während des Oktoberfestes unter Vortäuschung einer Verwandtschaft bei arglosen, bevorzugt etwas gedächtnisschwachen Damen einquartiert habe, um die Ausgaben für ein sowieso nicht mehr zu bekommendes Hotelzimmer zu sparen.

Bislang sei es nicht zu Diebstählen oder nennenswerten Sachbeschädigungen gekommen; Frau Reibeis solle ihre Familienverhältnisse sortieren und künftig besser aufpassen.

In den folgenden Wochen kehrt im Haus keine Ruhe ein, weil Frau Reibeis nacheinander drei Paketboten samt Paketen, einen Gaszählerableser, zwei Zeugen Jehovas, den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, einen Installateur, drei Zivildienstleistende samt Essen auf Rädern, den Hausverwalter sowie mehrere mutmaßliche Trickbetrüger unter wüsten Beschimpfungen die Treppe hinunterstößt, wodurch einige Notarzteinsätze nötig werden, unter anderem weil sich Frau Reibeis beim Ringkampf mit einem Müllmann eine leichte Gehirnerschütterung zuzieht.

Herr Hammler sagt, wenn das so weitergehe, werde er unausweichlich den Herzinfarkt kriegen, der der wildgewordenen Schachtel zustehe; aber seine Frau meint, etwas mehr Umsicht könne auch ihm nicht schaden und immerhin brauche man sich nicht mehr um Frau Reibeis zu sorgen.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.