DIE WAHRHEIT: Der Milliardenmumpf

Die Welt wird immer schöner, die Menschen werden täglich besser. Man sieht es unter anderem daran, dass es keine Leute mehr gibt: "Die Menschen haben eine neue Politik ...

... und vor allem einen neuen Politikstil gewählt", sagt Winfried Kretschmann nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg. "Holger Weinerts Streifzug durch hessische Adelshäuser führt diesmal zu jenen Menschen, die das Land in ihrem Namen führen", kündigt der Hessische Rundfunk ein Fernsehfeature über "Hessische Hoheiten" an. "Unter den Folgen der Reaktorhavarie von Tschernobyl leiden die Ukraine und - viel wichtiger noch - die Menschen dort noch heute", steht in der taz zu lesen.

Nicht einmal junge Leute gibt es noch: Das ZDF berichtet am Vorabend der Wahl in Bremen, erstmals seien "junge Menschen" unter 18 aufgerufen, ihre Stimme abzugeben; ähnlich verlautbart NDR 4 Info: "Zahlreiche junge Menschen haben in den letzten Wochen mobil gemacht", um ihre Altersgenossen zur Wahl zu motivieren. Und die taz meldet aus Spaniens Hauptstadt: "Die 26-jährige Biologin nahm mit zehntausenden junger Menschen an der Demonstration teil."

Madrilenen, Jugendliche oder junge Leute (welche lockere Bezeichnung doch einst ein wenig Unangepasstheit und Lebensfreude ahnen ließ), Ukrainer, Personen, Persönlichkeiten, Bürger: Sie werden alle über einen Kamm geschert, haben, was sie besonders macht, abgegeben und sind unterschiedslos zur Masse Mensch geworden. Nicht das Spezielle, um das es doch geht, wird betont, sondern das, was platterdings selbstverständlich ist, weshalb NDR 4 Info am Tag der Bremen-Wahl meldet: "Insgesamt sind 500.000 Menschen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben." Wer denn sonst? Etwa die Tiere?

An die denkt anscheinend niemand, wenn es menschelt: "Hierzulande engagiert sich die ,Deutsch-Polnische Gesellschaft' für ein partnerschaftliches Miteinander zwischen den Menschen beider Städte", schreibt eine Göttinger Stadtillustrierte über die Städtefreundschaft mit Thorn. Über "Menschen meiner Generation" lässt sich einer, nein: ein Mensch im Berliner Magazin Kiez und Kneipe aus; in Syrien, weiß die taz, gehen "protestierende Menschen" auf die Straße; "Für die Menschen hier in Düsseldorfs Rochusclub ein wunderschöner Tag!", behauptet auf WDR 3 ein Reporter beim Tennis-World-Cup; "Zahnärzte", berichtet die ARD aus der Uckermark, "machen Hausbesuche bei Menschen" und nicht etwa bei den Hunden und Katzen; und das Göttinger Tageblatt titelt: "Lieferservice ,Lotta Karotta' bringt Bio-Lebensmittel zu den Menschen", statt zu den Meerschweinchen.

Denken heißt differenzieren, und weil es bequemer ist, beides zu lassen, kennen die Leute anstelle von Kunden, Patienten, Zuschauern, Demonstranten, Angehörigen und Einwohnern nur Menschen. Die machen sich selbst dort breit, wo sie überflüssig sind: als "Menschen mit Behinderung" (statt: Behinderte), als "betroffene Menschen" (statt: Betroffene), als "schwarze Menschen" (statt: Schwarze). Man kann glatt auf die Menschen pfeifen: "seit Tagen verzichten viele Menschen auf Gurken", sagt eine Sprecherin der "heute"-Nachrichten, und so reden viele.

Begonnen hat die "Menschen"-Pest in den siebziger Jahren mit Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen à la "Luther als Mensch". Aber schon 1972 parodierte Monty Python die Marotte, als man in der ersten deutschen Folge - Albrecht Dürers 500. Geburtstag stand an - den Zuschauern versprach, ihnen "eine Vorstellung zu vermitteln von dem Menschen Dürer, im Gegensatz zu dem Insekt Dürer".

In jedem Wort schwingt Ungesagtes mit. Es steht in einem Bedeutungsfeld und unterhält unausgesprochen Beziehungen zu ähnlichen Worten ebenso, wie es unbewusst Assoziationen zum passenden Gegenstück weckt: bei "Wählern" sind es die Nichtwähler, bei "Kunden" die Geschäfte und bei "Menschen", was kein Mensch ist: das Tier. In unseren verdinglichten Zeiten aber auch: Sachzwänge, Institutionen. Da die Parteien sich als Letzteres betrachten und entsprechend institutionell denken, müssen sie den Wählern das Gegenteil weismachen und führen gern die notorischen "Menschen" an. Eine "besondere Nähe zu den Menschen" beteuert die CSU, um die Wähler in ihre besondere Nähe zu holen; darauf angesprochen, dass die Energiewende teuer werde, sagt Steinmeier im taz-Interview wie aus dem Bilderbuch: "Da dürfen wir den Menschen überhaupt nichts vormachen." Wem dann?

Die "Menschen" zählen sieben Milliarden, genug, dass jeder sich in der Masse verstecken kann. Als die "Aktion Sorgenkind" einen neuen Namen suchte, ihr die "Behinderten" aber nicht gut genug waren, taufte sie sich in eine irreführende "Aktion Mensch" um. Diese Tendenz zum möglichst allgemeinen Ausdruck ist bequem, macht aber nicht klüger. Es könnte immerhin sein, dass Sprechen und Denken eine Einheit bilden und, wo die Wortwahl ungenau ist, das Denken unscharf ist; dass, wo der Wortschatz verarmt, auch die Wahrnehmung oberflächlich ist - kurzum: dass die "Menschen" ein Dummwort degenerierter Menschen sind.

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