die wahrheit: Erschrecker für einen Tag

Schattengleich Angst verbreiten – ein Praktikumsbericht.

Nebelschwaden wabern gespenstisch durch die Gewölbe. Vier Mädchen tasten sich Hand in Hand mit schreckgeweiteten Augen zitternd durch die Dunkelheit. Von Zeit zu Zeit ertönen markerschütternde Geräusche wie von qualvoll Sterbenden, und von irgendwo her zucken flackernde Lichter. Die Mädchen bleiben eng aneinandergedrängt stehen. Sie wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Da, plötzlich … Eine schattenhafte Gestalt mit einem Mumienkopf und wehendem Mantel löst sich aus dem Schwarz der Gänge. Sie nähert sich den verängstigten Teenagern - aber noch haben sie sie nicht entdeckt … Jetzt steht das Gespenst direkt hinter ihnen. Die Kinder fahren herum und blicken direkt in die grauenhafte Fratze!

"Krrriiieetscht!! Waaahrrrrg!! Huuuuuuuhhhh!!", ertönen die gellenden Schreie der Mädchen. Mit einer Mischung aus ohrenbetäubendem Gekreisch und hysterischem Gegiggel ergreifen sie, sich gegenseitig zerrend, die Flucht. Das Gespenst verfolgt sie noch ein paar Schritte und zieht sich dann zurück in die undurchdringliche Dunkelheit. Das Gespenst – bin ich! Ich mache gerade ein Praktikum als Erschrecker am Berliner Gruselkabinett.

Am Morgen um Punkt 9.45 Uhr nimmt mich die Chefin Marlit Friedland am Eingang des alten Bunkers am Anhalter Bahnhof, in dessen Obergeschoss das Gruselkabinett beheimatet ist, in Empfang und erklärt mir gleich die wichtigste Regel: "Da oben reden wir nicht. Ein Geist hat keine Stimme." Ich werde meinem Praktikumsbetreuer Kevin Patzke zugeteilt. Kevin ist 22 und ein angehender Schauspielschüler, der schon seit über einem Jahr mit einer festen Halbtagsstelle als Erschrecker arbeitet. Er überreicht mir lachend meine Arbeitskleidung: eine dunkelbraune Mönchskutte und die Mumienmaske mit langem, schlohweißem Zottelhaar.

Bei der Anprobe erschrecke ich mich gleich vor meinem eigenen Spiegelbild, finde das Kostüm aber recht kleidsam. Dann führt mich Meister Kevin, wie er fortan heißen soll, durch die verschiedenen Räume des Kabinetts. Als ich einen der Gruselräume, in dem eine Reihe schwarzer Henker aufgereiht steht, nur zögernd betreten mag, muntert Meister Kevin mich auf: "Nur zu. Gehen Sie ruhig hinein, schließlich sind wir hier die Erschrecker." Ach, ja!

Meister Kevin – mit schwarzem Umhang und Totenkopf – erklärt mir: "Nach ungefähr drei Wochen kennt man das hier wie seine Westentasche, aber anfangs ist es schon nicht leicht, sich zurechtzufinden." Er solle mir zunächst "Sackgasse beibringen", hatte Frau Friedland für den Anfang vorgeschlagen: "Heute haben wir ein paar Schulklassen. Und Berufsschüler!" Berufsschüler scheinen etwas Besonderes zu sein …

Nun stehe ich auf meinem Posten. Die Besuchergrüppchen werden zu jeweils fünf Personen eingelassen und zunächst an mir vorbei durch einen Raum geführt, in dem gerade eine Jungfrau von einem Monster geschlachtet wird. Das Getöse geht los, sobald die Gruppe auf einem der dunklen Gänge anlangt, denn dort kommt der Meister mit dem Totenkopf aus dem Dunkel und erschreckt auf ganz bewundernswerte Art und Weise: Er kommt kurz hervor, stampft auf – und das Tohuwabu ist im vollen Gange! Ich aber soll schattenhaft folgen, hinter einem Vorhang die Gäste erschrecken und sie daran hindern, gleich wieder zum Eingang zurückzulaufen. Es klappt! Hurra! Sie schreien auch bei mir und weichen zurück …

"Das ist ein bisschen wie Schafe treiben", erläutert Meister Kevin die Arbeit bei einer kurzen Pause. "Man muss aufpassen, dass die Gäste den richtigen Weg durch das Kabinett finden. Auf gar keinen Fall darf man mit ihnen reden. Es kam schon vor, dass Gäste mit einem Erschrecker anbandeln wollten, aber so was geht gar nicht!"

Nur im äußersten Notfall darf ein Erschrecker einem Gast mit einer Geste den Weg zum Ausgang weisen. Aber nur dann, wenn der Gast wirklich genug hat. Dafür bekommt man als Erschrecker bald ein Gefühl. Wenn man merkt, dass eine Gruppe sich nicht erschrecken lässt, dann zieht man sich zurück, die kriegen ihren Schrecken schon noch ab …

Jetzt kommen die Berufsschüler. Sie geben sich cool. Ich husche schattengleich hinterher und versuche, der Gruppe Angst einzujagen. Fehlanzeige, sie lachen! Gedemütigt husche ich schattengleich zurück in mein Versteck. Dann Schreie: Meister Kevin hat die Berufsschüler am Ausgang doch noch erwischt. Er ist schnell und ausdauernd: "An manchen Tagen laufe ich hier gut meine zehn Kilometer, das hält fit und ist gut für die Figur. Man kommt zuweilen ins Schwitzen – da kann man gar nicht gegen anfuttern." Er hatte mich zuvor gelehrt, dass jeder Erschrecker seinen eigenen Stil hat: "Es gibt bei uns einen, der steht plötzlich einfach bei der Gruppe und macht sich nicht bemerkbar. Sobald sich aber einer aus der Gruppe umdreht und ihn sieht, dann kommt das Geschrei!"

Ich nähere mich einer Gruppe von Teenagern, die sich dicht aneinanderklammern. Ich mache nichts, ich stehe nur da. Eins der Mädchen dreht sich um – und schreit um sein Leben …

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kari

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