die wahrheit: Tätowierte Dichtung

Die Leipziger Schule verändert die gesamte deutsche Literatur.

"Es ist alles noch ein wenig ungewohnt", sagt Eva-Maria Selting unsicher. Die junge Frau hat sich eben den Schriftzug "Droste-Hülshoff" in schwarzer Frakturschrift über den Steiß tätowieren lassen. "Das hat mein Dozent vorgeschlagen. Wegen der street credibility."

Nun beäugt die Literaturstudentin, die noch im vergangenen Jahr für ihren Erzählungsband "Trübe Aussichten" mit dem begehrten Bamberger Ladenhüter ausgezeichnet worden war, das Werk kritisch im milchigen Spiegel ihrer Dichterklause, die ihr nach Einführung der neuen Studienordnung im Leipziger Stadtteil Reudnitz zugewiesen worden ist. Selting teilt ihr Zimmer mit acht russischen Kleinkriminellen und dem Fremdenverkehrsbüro "Sächsische Schweiz". Außerdem dient der Einraum zweimal in der Woche dem illegalen Glücksspiel und als Paukboden für Hundekämpfe. "Aber ich bin eh kaum hier", sagt sie, "Das Curriculum des Leipziger Literaturinstituts wurde ja beträchtlich erweitert. Da bleibt kaum mehr Zeit für Zerstreuung. Allein schon wegen der Sauferei."

Seit der Schriftsteller Clemens Meyer, Absolvent ebenjenes Institutes, mit seinen Storys über "Arbeitslose, Boxer, Schläger und Trinker" (FAZ) in allen maßgeblichen Feuilletons (SuperIllu, FreeFightMag, Oi-Rythmie heute) hymnisch gefeiert und wegen seiner "dichten und realitätsgesättigten" (Zeit) Prosa, die vor allem in Randbereichen menschlicher Zivilisation (im Osten halt) angesiedelt ist, auch noch den Preis der Leipziger Buchmesse abgeräumt hat, wurde im renommierten Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) eine empfindliche Kurskorrektur vorgenommen.

"Frolleinwunder war gestern", erklärt der neue künstlerische Anstaltsleiter Rudi "Lucky Punch" Kopsek. "Jetzt trainieren hier die führenden Hemingways von morgen. Oder zumindest Aushilfs-Bukowskis für die Provinzbühnen."

Gemäß dem Dichterwort, dass Literatur nicht "nicht schön, sondern geil und laut" (evtl. Schiller) zu sein habe, werden die angehenden Schriftsteller nicht mehr nur in den klassischen Erzähltechniken, sondern auch in Großwildjägerlatein und Seemannsgarn unterrichtet, außerdem wurde der Lehrplan um zahlreiche praktische Übungen erweitert. Neben theoretischem Boxen, Maulheldentum und Weitspucken wird jetzt vor allem Wert auf schlechten Umgang gelegt, auf ebenjene "Boxer, Schläger und Trinker" (FAZ) aus den derben Abenteuergeschichten (für Buben von 9 bis 99 Jahre) des Leipziger Preisträgers.

"Eine faszinierende neue Welt tut sich auf", erzählt Eva-Maria Selting, "neulich hatten wir die Aufgabe, eine ganze Woche in einer finsteren Eckkneipe herumzulungern. Beinahe wäre ich dabei angesprochen worden. Ich kann mich nicht erinnern, je so intensiv gelebt zu haben."

Auch auf dem Bau muss die zierliche Zwanzigjährige neuerdings malochen, das fördere die Inspiration und Meyer habe es ja auch so gehalten, hieß es - außerdem kann das Institut so begehrte Drittmittel aus der Bauwirtschaft einstreichen. Eva-Maria Selting lächelt tapfer, als sie den schweren Zementsack schultert. "Es ist halt alles noch ein wenig ungewohnt", sagt sie. "Auch mein Schreiben hat sich verändert, weg von der somnambulen Melancholie der leisen Zwischentöne …"

"Die Literatur ist dank Meyer wieder in der rauen Wirklichkeit angekommen", unterbricht Kopsek und plärrt seine Schützlinge mit der Trillerpfeife zusammen. Man habe sich mit den Hildesheimer Kommilitonen ("Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus") zu einer Kneipenschlägerei verabredet, dabei soll es vor allem um die Herausarbeitung neuer poetischer Verfahren gehen. Jedenfalls gibt es "richtig auf die Fresse" (C. Meyer, "Reise zum Fluss"). Alle jubeln pflichtgemäß. "In Zukunft wird niemand der Institutsliteratur mehr Blutarmut vorwerfen", schwört Kopsek.

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