49.-52. Tag Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Der Zeuge als Opfer

Ein ehemaliger FDLR-Meldegänger erzählt - aber nicht so, wie es die Prozessbeteiligten gerne hätten. "Es ist die Pflicht des Zeugen, sich anzustrengen!", meckert die Verteidigerin.

Einer der Angeklagten: Straton Musoni. Bild: dpa

STUTTGART taz | Welches Ziel wird damit verfolgt, im Prozess gegen Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, Präsident und Vizepräsident der im Kongo kämpfenden ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), ehemalige FDLR-Kämpfer zu befragen? Zur Wiederaufnahme der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart am 9. Januar 2012 nach der Weihnachtspause hat der 5. Strafsenat beschlossen, die Ladung pro Zeuge von zwei auf vier Verhandlungstage zu verlängern, nachdem gegen Ende 2011 zwei Tage wiederholt nicht gereicht hatten.

Die Vernehmung des ehemaligen Korporals J am 9., 11., 16. und 18. Januar war nun die erste, die vier Tage dauerte und damit dem Senat, der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung genügend Zeit für eine ausführliche Befragung geben sollte. Damit wird ein neues Problem deutlich: Wie füllt man diese Zeit?

J. ist heute wohl 26 oder 27 Jahre alt – ob er 1984 oder 1985 geboren wurde, lässt sich nicht abschließend klären. Er kam 1994 nach dem Völkermord als ruandischer Hutu-Flüchtling in den Kongo, also als Kind. Er half dann ab 1998 den militärisch nunmehr als ALIR (Befreiungsarmee Ruandas) organisierten ruandischen Hutu-Soldaten im Kongo und wurde im Jahr 2000 selbst Soldat – mit 16 Jahren fällt J. damit unter die UN-Definition eines Kindersoldaten. Sein Vater ist tot, seine Mutter lebt irgendwo im Kongo, sein Bruder wurde von Kongos Armee gefangengenommen und starb bei einem FDLR-Gegenangriff. Er ist noch jung, aber in seinem Leben hat er viel Schlimmes gesehen und erlebt.

.J ist möglicherweise traumatisiert. Er hat einen Zeugenbeistand, weil er offensichtlich rechtlichen Rat benötigt. Doch sein Verhalten vor Gericht macht deutlich, dass er zudem eine psychologische Begleitung gebrauchen könnte. Die gibt es aber nicht. Und auch das Verhalten einiger Prozessbeteiligter, insbesondere der Verteidigung der Angeklagten, hat deutlich gemacht, dass Zeugen wie J., die selbst als Opfer eingestuft werden könnten, unbedingt eines Beistandes bedürfen, der sowohl ihre Rechte als auch ihr psychologisches Wohlergehen während des Verfahrens vertritt.

So aber tritt der Ruander J. in einem für ihn völlig fremden Land in einem Justizsystem auf, dessen Regeln er nicht kennt, in einer Hauptverhandlung, dessen Dynamik ihm niemand erklärt, mit Fragen, deren Sinn sich nicht unbedingt erschließt. „Wenn man dich befragt, ist man im Herzen nicht ruhig, da man nicht weiß, warum man befragt wird“ sagt er einmal.

"Herr Zeuge, konzentrieren Sie sich!"

Manchmal erntet J. mit unsicheren Antworten Gelächter seitens der Verteidigung und des Senats. Manchmal entspannen sich zwischen den Prozessbeteiligten Dialoge, die er nicht verstehen kann – zum Glück, wenn Anklage und Verteidigung sich gegenseitig Rassismus vorwerfen. Manchmal geht die Stimmung im Saal 6 des OLG Stuttgart hart an die Grenze. "Herr Zeuge, jetzt konzentrieren Sie sich mal!" ruft Murwanashyakas Verteidigerin Ricarda Lang, als der Ruander nicht mehr weiß, ob er in einem gewissen Ort vor 2004 lebte oder nicht. "Es ist in Deutschland die Pflicht des Zeugen, sich anzustrengen!"

Der Ruander hat während seiner zwei Wochen im kalten Gerichtssaal in Stuttgart mit seiner Frau in Ruanda telefoniert, wie er auf Nachfrage bestätigt. "Haben Sie eine oder mehrere Frauen?" ist die Nachfrage von Verteidigerin Lang. Die Bundesanwaltschaft erhebt Einspruch; dies führt später zu einem Disput, in dem die Anklage der Verteidigung Rassismus vorwirft – "bei einem Weißen würde man nicht fragen, ob er Bigamist sei" - und die Verteidigung sich wiederum dagegen verwahrt. Der Zeuge würde nun gerne die Verteidigerin etwas fragen, aber das darf er nicht: "Ich werde keine Frage beantworten; Sie als Zeuge haben die Aufgabe, auf Fragen zu antworten", sagt Lang.

J. weiß eigentlich mehr, als das Gericht von ihm wissen will. Er stellt manche Militäroperationen der FDLR gegen Kongos Armee ab 2009 so dar, dass Kongolesen zivile ruandische Flüchtlinge gefangen nahmen, um sie nach Ruanda zurückzubringen, und die FDLR zurückschlug, um die Flüchtlinge zurückzuholen. Es gab sogar Gefangenenaustausche über die UN-Mission im Kongo (Monuc) berichtet er: "Die FARDC hat FDLR an Monuc ausgeliefert; wir haben dann auch FARDC an Monuc übergeben, um unsere Soldaten im Austausch freizubekommen". Eigentlich sollte ja die Monuc gegen die FDLR vorgehen und nicht mit ihr über Gefangene verhandeln.

Die FDLR habe bei der Einnahme kongolesischer Armeebasen auch zuweilen Familienangehörige geflohener FARDC-Soldaten festgehalten, so deren Ehefrauen. "Wir haben nichts mit ihnen gemacht", sagt J. "Sie hörten Schüsse und lagen auf dem Boden. Als die Schüsse aufhörten, sagten wir ihnen, dass sie gehen können." Gab es Vergewaltigungen? "Das weiß ich nicht."

Der ehemalige FDLR-Kämpfer, der 2010 die Miliz verließ und nach Ruanda zurückkehrte, um seinen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen, antwortet auch durchaus überlegt. "Ich wurde nur gefragt, ob Zivilisten umkamen, aber nicht wie", stellt er klar, als die Bundesanwaltschaft nach zivilen Opfern der FDLR nachbohrt. Dann gibt er jedoch zu, dass durch FDLR-Feuer beim Angriff auf kongolesische Armeebasen durchaus Zivilisten getroffen worden sein können: "Dort waren ruandische Flüchtlinge und kongolesische Zivilbevölkerung, die dorthin geflohen war; die Munition unterscheidet nicht", so J. – in Wiederholung eines in Stuttgart schon mehrfach gefallenen Spruches. "Das ist kein Spruch", weist er zurück. "Wenn die Kugel die Richtung eines Zivilisten nimmt, kann die Kugel die Richtung nicht ändern, um einen Soldaten zu treffen."

J war allerdings nur am Rande an Kämpfen beteiligt. Er war jahrelang "coureur" eines FDLR-Kompaniechefs und dann eines höherrangigen FDLR-Militärs in Kalongi in Nord-Kivu, wo sich auch eines der Hauptquartiere der FOCA (Forces Combattantes Abacunguzi, militärischer Flügel der FDLR) befand. "Coureur" übersetzt das Gericht mit "Meldegänger", aber korrekter wäre wohl "Laufbursche". "Meine Aufgaben waren die ständige Begleitung [des Kommandanten] und das Tragen von Sachen", erklärt J. seine Arbeit.

Er holte morgens Wasser zum Waschen und abends Wasser zum Kochen und kümmerte sich um den Schlafplatz seiner Vorgesetzten. Manchmal trieb er auch Geschäfte. So kaufte er im Auftrag bei Kongolesen Waren wie Kleidung, Batterien und Öl und verkaufte sie an ruandische Flüchtlinge unter FDLR-Kontrolle. Von den Einnahmen behielt er wohl die Hälfte, sagt er, die andere Hälfte bekam sein Vorgesetzter – ein wichtiger Hinweis auf die Art, wie sich die FDLR im Kongo finanziert. J. half auch beim Anbau von Rüben, Bohnen und Gemüse.

J. lernte zwar, wie man ein Gewehr benutzt und auseinander- und zusammenbaut, er hat auch geschossen und er war auch an der Front, er war an zwei FDLR-Operationen beteiligt war; bei einer wurde er von einem Granatsplitter am Bein verwundet. Zwar erlebte er auch, wie Murwanashyaka die FDLR im Kongo besuchte, kann von den Besuchen jedoch nichts für das Gericht interessantes berichten.

Von daher ist Js mögliche Kenntnis der FDLR-Kommandostrukturen, des Verhältnisses zwischen politischer und militärischer Führung, der militärischen Anweisungen der FDLR, des Status diverser FDLR-Abspaltungen und ähnlicher politischer Themen begrenzt. Er wird dazu in einer Weise befragt, als ob er es wissen müsse und es daher sein Problem sei. Es ist aber eher das Problem des Senats. Die Prozessbeteiligten wissen anscheinend nicht wirklich, was sie vier Tage lang mit ihrem Zeugen anfangen sollen. Sie fragen zuwenig dort nach, wo der Zeuge etwas zu sagen hätte, und zuviel dort, wo er offensichtlich ratlos ist. Sie wollen Jahreszahlen und Abläufe hören, wo J. von Ereignissen und Stimmungen berichten könnte.

"Ich weiß nicht, wie alt ich bin"

Manchmal entwickeln sich daraus komplett sinnfreie Dialoge. "Kennen Sie die Statuten der FOCA?" fragt die Verteidigung. "Was bedeutet Statut?" fragt der Zeuge zurück. Der Dolmetscher erklärt es ihm. "Kennen Sie die Gesetze der FOCA?" wiederholt Rechtsanwalt Sauer. "Nein", antwortet der Zeuge.

Manchmal wird er verunsichert. "Am Montag sagten Sie, Sie sind 26 Jahre alt. Sind Sie sicher?" fragt einer der Bundesanwälte. "Ja", antwortet J. "Sie wurden im Dezember 1984 geboren oder in 1985?" hakt der Bundesanwalt nach. "Ich glaube, ich bin zwischen 1984 und 1985 geboren", antwortet J: "Es gab keine Eltern, die mir sagten, wann ich geboren wurde, ich versuche es nachzuvollziehen." Die Staatsanwaltschaft sagt, laut Protokoll sei er im Juni 1985 geboren. "Wie erklären Sie das?" J. antwortet: "Mein Alter zu erklären ist schwierig. Ich weiß nicht, wie alt ich bin."

Manchmal versucht die Verteidigung, dem Zeugen aus seiner Unsicherheit einen Strick zu drehen. "Können Sie für die Operation in Pinga eine zeitliche Einordnung geben?" fragt Murwanashyakas Verteidigerin Ricarda Lang. "Ich erinnere mich nicht, wann die Operation in Pinga war", antwortet J. Lang hält ihm vor, dass er schon verschiedene Zeiträume genannt habe. "Können Sie sich erinnern oder nicht?" "Ich versuche mich zu erinnern", sagt der Zeuge. "Ich weiß, dass ich bei den Kämpfen in Pinga war, aber ich weiß nicht mehr wann."

Lang wird ungeduldig und herrscht den Zeugen aggressiv an woraufhin der vorsitzende Richter sie ermahnt, den Zeugen nicht anzuschreien. "Können Sie jetzt was sagen oder nicht?" ruft sie. "Ich kann nicht sagen, in welchem Jahr es war", antwortet J. Lang hält ihm vor, bei seiner Vernehmung im Mai 2010 habe er noch gesagt, das sei im Zeitraum Januar bis September 2008 gewesen. "Ich kam gerade aus dem Kongo und konnte mich noch gut erinnern; heute ist es lange her und ich kann mich nicht mehr erinnern", antwortet der Zeuge.

Manchmal dreht sich die Verteidigung auch selbst einen Strick. Lang fragt: "Bitte schildern Sie mir einen zusammenhängenden Sachverhalt. Wen haben Sie wann wo getroffen und wer war Kommandant?" Man kann dem Zeugen nicht verdenken, dass er darauf lapidar antwortet: "Ich erinnere mich nicht, was alles gelaufen ist."

Als er später wieder einmal sagt, er könne sich nicht erinnern, fragt Lang, so als habe sie noch nie etwas von psychologischen Folgen eines Krieges gehört: "Und wenn Sie sich konzentrieren? Der Krieg ist ja nicht so lange her und Krieg gräbt sich doch ins Gedächtnis ein."

"Wenn ich mich erinnere, sage ich es Ihnen"

Am Schluss ist es der Zeuge, der die Verteidigung belehrt. "Wenn ich Ihnen sage, ich kann mich nicht erinnern, heißt das nicht, dass ich nicht weiß", sagt er. "Aber ich muss versuchen, mich zu erinnern. Ich kann nirgends nachlesen." Lang fällt dazu scheinbar nichts ein. Sie fragt einfach: "Woran erinnern Sie sich noch bezüglich Umuja Wetu?" J. antwortet: "Wenn ich mich erinnere, sage ich es Ihnen."

Dass der Zeuge es auf diese Weise am vierten Tag seiner durchaus erschöpfenden Vernehmung schafft, das aggressivste Mitglied der Verteidigung auszumanövrieren, spricht für innere Stärke, die der Senat aber leider nicht zu nutzen weiß. Zeuge ist nicht gleich Zeuge, zumal bei einem Verfahren gegen Führungsverantwortliche einer noch aktiven militärischen Organisation.

Während in Stuttgart der Prozess läuft, finden in Nord-Kivu die blutigsten Gefechte zwischen FDLR und kongolesischen Milizen seit über zwei Jahren statt. Was deren Opfer erzählen, ist schrecklicher als alles, was in Stuttgart zur Sprache kommt. Man schaudert vor dem Gedanken, dass irgendwann nicht nur mutmaßliche FDLR-Mittäter, sondern auch mutmaßliche kongolesische Opfer im 6. Saal des OLG Stuttgart über den Horror des Krieges aussagen müssen und durch die Mühle dieser Art von Befragung und Konfrontation gezogen werden.

Gegen Ende des 52. Verhandlungstages spricht der Vorsitzende Richter Hettich es immerhin einmal aus: "Was hier zwischen den Prozessbeteiligten passiert, ist eher unüblich, hier jedoch schon fast normal", bilanziert er. "Aber wenn es den Zeugen betrifft, ist es meine Rolle, einzugreifen". Hätte er es doch öfter getan.

Redaktion: Dominic Johnson

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