Die Wahrheit: Das Blech des Bösen

Es heißt, jede Narbe erzählt ihre eigene Geschichte. Leider ist verheiltes Gewebe kein besonders guter Erzähler, weshalb diese Geschichten oft unglaublich langatmig sind.

Es heißt, jede Narbe erzählt ihre eigene Geschichte. Leider ist verheiltes Gewebe kein besonders guter Erzähler, weshalb diese Geschichten oft unglaublich langatmig sind. Die schmalen Narben an meinem Unterarm beispielsweise erzählen davon, wie ich mir einmal liebeskrank die Pulsadern aufschneiden wollte, freilich ohne zu verbluten, so schlimm war es auch wieder nicht, weshalb ich die Rasierklinge quer zu den Adern ansetzte, nicht längs, wie es sich gehört. Und die dicke Narbe auf meinem Bauch macht sich mit der Geschichte wichtig, von Außerirdischen hinterlassen worden zu sein, die mich entführt, ausgeweidet und schlampig wieder zusammengelasert haben. Dafür würde ich aber nicht die Hand ins Feuer legen. Alle anderen Narben sind Kunst, das weiß ich. In der Handfläche, im Nacken, auf dem Oberschenkel, an der Schulter. Alles Kunst.

Ursache war das Blech. Viereckig hängt es noch heute bei uns im Flur, ungefähr ein Quadratmeter groß und hauchdünn. Ein eigentlich industrielles Bauteil, das meine Freundin bei der Ferienarbeit in einem Werk für Heizkessel entdeckte. Das Blech hatte ein paar Tage draußen im Regen gestanden und angefangen zu rosten, weshalb es aussortiert werden sollte. Meine Freundin aber fand Gefallen am fröhlichen Orange auf silbrig leuchtendem Grund, weshalb sie das Blech, wie andere Leute einen Straßenköter, kurzerhand mit nach Hause nahm und zu einem vollendeten Kunstwerk erklärte. Es handele sich dabei nicht einfach nur um ein gefundenes Objekt, sondern um ein vornehmes „object trouvé“. Meinem laienhaften Einwand zum Trotz, es sei schlicht Schrott, hämmerte sie über dem Bett zwei Nägel in die Wand, an denen „das Kunstwerk“ künftig hängen sollte.

Es kam, wie es kommen musste, nämlich gleich in der ersten Nacht runter. Instinktiv griff ich danach – und schlitzte mir an seiner rasiermesserscharfen Kante die Hand auf. Dass ich es beim Wiederaufhängen berührt haben muss, sahen wir erst am folgenden Morgen. Da waren die vier fingerabdruckartigen Blutflecken bereits getrocknet und dunkelrot eingerostet. Meine Freundin war begeistert: „Wenn Metall oxidiert, verbrennt es eigentlich. Nur in Zeitlupe!“ Es belichte sich dabei sozusagen wie eine Fotoplatte selbst, deshalb bliebe es da jetzt für immer hängen, ich würde schon sehen.

Und ich sah. Seit über zwei Jahrzehnten begleitet uns nun schon das Blech, eingedunkelt von den Zeitläuften – inzwischen mit einem Purpurrahmen von den schweißnassen Händen, mit denen es bei jedem Umzug angefasst wurde. Und von Blut, immer wieder von Blut. Es war, als hätte es das Damoklesblech auf mich abgesehen. Fast jeder Griff zum Blech führte zu einer neuen Wunde, und jede dieser Narben hat ihre Entsprechung im Kunstwerk. Als Spritzer im Stil von Jackson Pollock oder als sanft verwischtes „sfumato“ in der Tradition eines Leonardo. Ein ebenso abstraktes wie perverses Poesiealbum. Wir warten nur noch darauf, dass sich endlich auch unsere Töchter eintragen. Mit kindlicher Kunsterziehung kann man ja gar nicht früh genug anfangen.

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kari

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