Die Wahrheit: Fiebriges Poetenwetter

Wenn ein Wirbelsturm in den Alltag eines großen Dichters einbricht und seine empfindsame Seele anrührt.

Selbst den unschuldigen Wagen des großen Dichters wollte der bösartige Wirbelsturm nicht verschonen. Bild: reuters

Schwere Wetter ziehen auf, der Himmel verfärbt sich schwefelfarben, der Wind wimmert. Dolf Biederstein blickt prüfend in den Spiegel und massiert die hohe Poetenstirn. Ein Windstoß rüttelt an den Fensterläden, eine scharfe Bö hebt fast das Badezimmerfenster von Dolf Biedersteins Apartment aus den Angeln. Dolf fährt unterdessen mit dem Hanteltraining fort und wärmt in der Mikrowelle den übriggebliebenen Kaffee von gestern auf. Als das herannahende Unwetter die ersten Dachziegel in die fiebrig vibrierende Luft schleudert, rührt sich Dolf sein morgendliches Müsli zusammen. Er isst es mit sichtlichem Behagen, als die Wetterwand unerbittlich Kurs auf sein gemütlich eingerichtetes Heim nimmt. Knusper-Crunchies mit Schoko-Mandel-Nuss – mhhh! Nicht dieses ungenießbare Seitenbacher-Müsli, dieses Müsli vom Seitenbacher, woisch, der Seitenbacher vom Müsli. Dolf Biederstein weiß nicht, was hier kracht – die leckere Müslimischung oder die am Boden zerschellenden Dachziegel. Jedenfalls kann der Tag jetzt kommen, noch einen Schluck Kaffee und dann kann es losgehen.

Draußen ist es offensichtlich schon losgegangen, die Ulme, die gestern noch so wunderbaren Schatten spendete, hat jetzt Biedersteins Mazda unter sich begraben. Dolf sieht sich die schöne Bescherung an und lässt sich von den Böen zur nächsten Bushaltestelle tragen. Dort angekommen, fragt sich Dolf, warum er sich von den Böen nicht gleich in die Innenstadt wehen lässt. Gesagt, getan.

Einzig die sorgsam geföhnte Frisur bereitet Dolf bei diesen doch ungewöhnlichen Wetterbedingungen Sorge. Wie, bitteschön, soll er mit zerzausten Haaren formschön gestaltete Texte drechseln? Federleicht treiben die Winde Dolf Biederstein dem Arbeitsplatz entgegen – sein Glockenrock beschleunigt die Fahrt ungemein. Wie ein Schiff mit sechs Segeln, ach, er fühlt sich so luftig und federleicht, es ist das pure Morgenvergnügen.

Das in einer ehemaligen Panzerfabrik untergebrachte Wortwerk steht unerschütterlich in der Morgensonne. Dolf Biederstein eilt beschwingt in die Wortspiel-Schmiede und begrüßt seine Kollegen, die sich von den Unbilden des Wetters nicht von ihrer wichtigen Aufgabe abbringen lassen. Zwar rütteln auch hier die tobenden Winde an der zinnenbewehrten Backsteinfassade, doch der Gründerzeitbau hält stand wie der sprichwörtliche Pelz in der Brandung.

Hennes Kolchowiak im Blaumann, an der Dampframme ein Methaphern-Monteur der alten Schule, bringt die Wetterlage auf den Punkt: „Ein Wetterchen zum Wörterlegen.“ Julius Justenbrecher, aufgrund seines Namens zum Stabreim-Stanzer prädestiniert, nennt das ganze Wettergeschehen lapidar „wühlende Winde.“ Biederstein setzt seinen Rundgang durch die luftigen, je geradezu loftigen Hallen des Wortwerks fort, durchquert Reimwerkstatt und passiert schließlich die Adjektiv-Ablage, eine fürchterlich staubige, spinnwebverhangene, stickige Rumpelkammer, in der Wendelin Fuchs, der 78-jährige Träger des Bitterfelder Poetentalers, sein Gnadenbrot fristet.

Endlich hat Dolf Biederstein seinen eigenen Arbeitsplatz erreicht – die unter dem Dach gelegene Endmontagehalle, in der sämtliche vorgefertigten Satzteile und Wortmodule angeliefert werden und am großen Endmontagen-Fließband zusammenmontiert werden. Egal ob der Auftrag Sonett, Hymne oder Elegie, Bericht, Reportage oder Werbetext verlangt, hier wird von den Wortwerkern alles mit der gleichen gründlichen Ernsthaftigkeit behandelt. Am Ende werden hier Teilsegmente des Buch- und Medienmarktes zu erlebnisorientierten Textwelten entwickelt und zielgruppengerecht hergestellt. Eine schöne Aufgabe für wortgewandte Existenzen wie Dolf Biederstein, der heute vor der anspruchsvollen Aufgabe steht, die gelieferten Binnenreime passgenau in die Werbebotschaft des Möbelhauses Brenneke einzufügen. Doch gerade, als er beginnen will, deckt eine gewaltige Windhose das gesamte Dach des Wortwerks ab und wirbelt all die darunter gelagerten schönen Wörter, Sätze und Texte in die frühlingshafte Champagnerluft. Und mit dem Strom der Lüfte geht er dahin, der Dichter Dolf Biederstein, dessen poetisches Gesamtwerk hier an seinen Endpunkt gekommen ist. Seine letzten Worte aber sind: „Draußen tobt der Sturm und drinnen der Aufruhr der Seele.“

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kari

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