Die Wahrheit: Das Gravitationskonzentrat

"Schnell, komm rein, du musst dir das anschauen!", rief Raimund. Er packte mich an der Schulter, zog mich in die Wohnung, schob mich durch den Flur...

"Da!", sagte er, als wir in der Küche standen. Er zeigte auf einen klebrigen Trümmerhaufen auf dem Terrazzofußboden, dessen wesentliche Bestandteile ein heruntergestürzter und zerbrochener Honigtopf, etwas Toast, einige Apfelschnitze und eine üppige Prise Zucker waren.

"Weißt du, was das ist?!" Ich kratzte mich am Kopf. Für jeden anderen wäre es schlicht ein klebriges Frühstücksdesaster gewesen - aber für Raimund? Breakfast-Crash-Art?

Oder hatte sich ein kleiner schrumpelhäutiger Außerirdischer mit großen traurigen Augen neben dem Küchentisch materialisiert und einen Tobsuchtsanfall bekommen, bei dem er wie von Sinnen nach Honigtopf und Zuckerdose griff und sie mit dem Ausruf: "Ich will doch nur nach Hause telefonieren!" zu Boden schleuderte? Es gab endlos viele Möglichkeiten, und daher zuckte ich bloß mit den Schultern.

"Es ist", raunte Raimund bedeutungsvoll, "ein Kondensationspunkt erhöhter Schwerkraft - ein Ort mit konzentrierter Gravitation!"

"Ach, so", sagte ich, "na klar - wieso bin ich nicht von selbst drauf gekommen?!" Raimund schnaufte verächtlich. "Du glaubst mir nicht", seufzte er. "Pass auf!" Er schob einen Kaffeebecher an den Rand des Tisches: Der Becher kippte und klirrte in den Trümmerhaufen.

Langsam wurde es wirklich ein Kunstwerk. "Siehst du", sagte Raimund: "Klarer Fall von okkasionell azentrifugaler Gravitationsmaximierung!" - "Also bitte, Raimund!", knurrte ich: "Der Becher musste doch runterfallen!" - "Musste er nicht! Ich hatte …"

In diesem Augenblick klirrte es wieder in dem Kunstwerk. Ein Teelöffel war vom Tisch gefallen, und ich hätte schwören können, dass er nicht an der Tischkante gelegen hatte. "Wie hast du das gemacht?", murmelte ich verdattert.

Ich schaute unter den Tisch, suchte in seinen Händen nach einem Magneten. "Ich habe gar nichts gemacht", flötete Raimund süffisant, "Ich habs dir doch gesagt: Hier herrscht punktuell erhöhte Schwerkraft, und das Einzige, was mir jetzt noch fehlt, ist eine Idee, wie sich dieses wundervolle Phänomen zu Geld machen lässt."

Ich ging verunsichert nach Hause, blätterte in Lexika, sauste durchs Internet. Natürlich war eine lokal begrenzte, spürbare Schwerkrafterhöhung physikalisch reinweg unmöglich, doch als ich am folgenden Samstag über den Wochenmarkt zog, wunderte ich mich nur wenig, als ich in der Nähe des Georgsbrunnens auf eine Menschentraube stieß, hinter der ich ein metallisches Klopfen sowie Raimunds Stimme hörte.

"Nie wieder Bohren, Dübeln, Schrauben - befestigen auch Sie Ihre Bilder, Schränke, Regale in Zukunft mit ein paar Krümeln Gravitationskonzentrat an der Wand!", rief er, und als ich mich zu ihm durchgearbeitet hatte, sah ich, dass er tatsächlich einen medizinballgroßen Brocken aus seinem Küchenfußboden herausgebrochen hatte, den er jetzt mit Hammer und Meißel in verkaufsfähige Portionen zerteilte.

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kari

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