die wahrheit: Tomatenblutrache

Im vietnamesischen Supermarkt an der Ecke. Ein Mann kommt zur Tür herein. Er trägt eine Tüte voller Tomaten und fragt den Vietnamesen: "Kannst du das mal auswiegen?" ...

... Im vietnamesischen Supermarkt an der Ecke. Ein Mann kommt zur Tür herein. Er trägt eine Tüte voller Tomaten und fragt den Vietnamesen: "Kannst du das mal auswiegen?" Der Vietnamese tut ihm den Gefallen, die Waage zeigt knapp 900 Gramm an und der Mann flucht: "Wusst ichs doch. Der Türke hat mich beschissen." Der Vietnamese reißt entsetzt die Augen auf. "Ich habe ein Kilo bezahlt. Das ist aber kein Kilo", flucht der Mann, "jetzt gehe ich zurück und hau dem Türken die Tomaten um die Ohren", knurrt der Mann, und der Vietnamese wird ganz bleich im Gesicht. Verzweifelt stellt er sich dem Mann in den Weg und presst flehend ein paar kaum verständliche Worte heraus: "Abe nich sage, dass hier gewoge. Nich hier gewoge!" In seinen panischen Augen ist ganze Angst vor seiner Zukunft zu sehen.

Was für ein wunderbar Anfang für einen Film. Ein Jahrhundertwerk. Ein Epos über Generationen hinweg. Der Vietnamese ist gerade erst aus der Schattenwirtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen, als ein kleiner Streit zum großen Krieg zweier Clans wird. Sein Sohn wird ein angesehener Unternehmer, sein Enkel der erste vietnamesischstämmige Minister, doch der Vater musste sich mit der Mafia einlassen, um Schutz gegen seinen ältesten Feind zu bekommen. Ein zweiter Sohn wird vom Bruder des Türken erschossen, und so zieht sich die Tomatenblutrache durch das Jahrhundert …

Aber würde das nicht ein todlangweiliger Familienrundumfilm werden? Wäre es nicht viel lustiger, ein halbparodistisches Stück aus der hartgekochten Schule zu schreiben …?

Das Zitronengesicht stand grinsend an der Kasse und betrog wie üblich die alte Dame. Sie kaufte jeden Tag eine Cola und einen Weinbrand für ihren Futschi-Abend. Und jedes Mal prellte das Zitronengesicht sie um zehn Cent. Die Münzen bunkerte er in einem alten Senfglas. Einmal im Jahr rollte er sie und ging zu der billigen chinesischen Nutte um die Ecke. An seinem Geburtstag. Heute war die Frau des Gelben nicht da. Sie wusste es genau und steckte der alten Lady manchmal einen Schein zu. Und die Nutte verfluchte sie vor dem winzigen Altar für die Hausgötter im Hinterzimmer.

Die Tür wurde aufgestoßen, und Drei-Finger-Fred fiel in den Laden. In seinen riesigen Pranken trug er mal wieder eine Tüte Tomaten spazieren. "Fitschi!", begrüßte er den Vietnamesen unnachahmlich charmant. "Wieg mal aus!" Die Tomaten waren für das "Monster", wie seine Frau im Viertel hieß. Sie wog 180 Kilo und hatte seit acht Jahren die Wohnung nicht verlassen. Wenn sie alle drei Monate ihren Herzkaspar bekam, verbot der Notarzt ihr die Pralinen, von denen sie sich ernährte. Eine Woche hielt sie ihre Gemüse-Diät durch, dann fraß sie sich die drei verlorenen Kilo und zehn neue auf.

"Wusst ichs doch. Der Scheiß-Türke hat mich beschissen", krächzte Drei-Finger-Fred heiser vor Wut, als sich das Zitronengesicht ihm in den Weg stellte …

Schade, dass an dieser Stelle so wenig Platz ist für Episches. Und noch bedauerlicher ist, dass der Gemüsetürke sein Geschäft eine Woche nach dem Vorfall für immer geschlossen hat und aus unserem Viertel weggezogen ist. Tja, das wars dann wohl leider mit dem Jahrhundertwerk.

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kari

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