die wahrheit: Norbert, der Neandertaler

Wissenschaftliche Sensation: Urzeitlicher Homo buerzensis bei Düsseldorf entdeckt.

Der nachdenkliche Neandertaler Norbert ist sich darüber bewusst, dass er in zwei Zeiten und Welten zu Hause ist. : ap

"Natürlich war das für mich erst einmal ein Schock", erinnert sich Norbert L., "ich bin ja immerhin Akademiker." Der diplomierte Verwaltungswirt Norbert L., der aus einer Kleinstadt bei Düsseldorf stammt, ist Neandertaler, das hat eine routinemäßige Überprüfung seines Erbgutes ergeben.

Hatte die Forschung bisher angenommen, der Vorläufer des modernen Menschen sei vor 30.000 Jahren ausgestorben, muss diese Annahme nach dem unerwarteten Auftauchen von Norbert L. auf der Bühne der Menschheitsgeschichte revidiert werden. "Bei Herrn L. handelt sich um ein voll ausgewachsenes Männchen, das genetisch eindeutig der Gattung Homo neanderthalensis zuzuordnen ist." freut sich seine Entdeckerin, die Heidelberger Paläoanthropologin Hiltrud Bürzen.

Homo buerzensis, wie der wissenschaftliche Name von Norbert L. lautet, wohnt mit seiner dreiköpfigen Horde (Ehefrau Klara, 42, Tochter Lara-Marie, 12 und Sohn Fabian, 7) in einem unscheinbaren Reihenhaus, dass er nach eigener Aussage von seinen Eltern geerbt haben will. "Das ist nichts Ungewöhnliches", sagt Bürzen, "Neandertaler gelten als sesshaft und überaus standorttreu."

Trotzdem hat man Überreste dieser evolutionär unterlegenen Gattung bislang nur in abgelegenen Höhlensystemen gefunden. "Dass Neandertaler auch schlüsselfertige Zweckbauten als Behausung nutzen, war auch mir neu", so Bürzen.

Nach kurzer Sicherheitsunterweisung ("Keine Fütterung! Keine hektischen Bewegungen! Kein Ausschank von alkoholischen Getränken!") schließt die resolute Forscherin das Gehege auf. Das lebende Fossil hat bereits Vertrauen zu seiner Entdeckerin gefasst; man plaudert über Börsenkurse, das Wetter und die Mammutjagd.

Äußerlich ist dem glattrasierten Mittvierziger nichts anzumerken, der Schlips sitzt korrekt, der Händedruck ist fest, aber nicht schraubstockartig, und doch umgibt den zweifachen Familienvater und ehemaligen Kirchenvorstand eine zutiefst animalische Aura. Eine seelische Dumpfheit, ein stumpfes Brüten, das keine Erlösung kennt, liegt in seinem Blick. Eigentlich unfassbar, dass L. jahrzehntelang unerkannt das Leben eines Biedermannes hatte führen können. Nicht nur die Nachbarn sind bestürzt und fassungslos, auch Fremde nehmen Anteil. "Warum?" fragt ein selbstgemaltes Schild anklagend. "Der Neandertaler wurde von der Forschung bislang einfach unterschätzt", erklärt Paläoanthropologin Bürzen dazu lapidar.

"Er hat immer so freundlich gegrüßt", meint auch Hausfrau Gudrun F., deren Grundstück an das neugeschaffene Reservat grenzt, dass lediglich mit einem grobmaschigen Zaun von der Siedlung abgetrennt ist. Nun fürchten die Anwohner um ihre Sicherheit, zumal das urzeitliche Wesen bisweilen bedrohliche Verhaltensweisen an den Tag legen soll. "Er hat mir einmal die Vorfahrt genommen", lautet ein Vorwurf. "Er hat während der Mittagsruhe Rasen gemäht", ein anderer.

"Wir alle leben in Angst", gibt sich auch Ludger Völler-Neumann, Vorsitzender der örtlichen Bürgerinitiative "Wir alle leben in Angst e.V." alarmiert. "Der Bürger wird hier mit einem beträchtlichen Gefährder alleine gelassen."

Das freilich sieht Bürzen anders. "Der Neandertaler ist durchaus nicht der gefräßige Räuber, als der er oft dargestellt wird", verteidigt sie ihren Schützling, "er tötet nur, wenn er dazu gezwungen ist." Und dennoch liegt etwas unbarmherzig Lauerndes in den tiefliegenden Augen des Nobert L., der uns gerade selbstgemachten Eistee serviert. Es sind die Augen eines Jägers. Oder eben die eines Sammlers.

"Es stimmt. Ich bin leidenschaftlicher Sammler", gibt L. denn auch zu. Bereitwillig führt uns der zugänglich wirkende Wilde zu seiner beachtlichen Sammlung von Überraschungseierfigürchen. "Wir haben es hier mit einer primitiven Vorstufe von Religion zu tun", weiß Paläoanthropologin Bürzen - sie hat die Sammlung bereits für das Senckenberg-Museum katalogisiert. "Bezeichnend dabei ist, dass er zufällig gefundene Objekte anbetet und keine eigenen Artefakte herstellt."

Trotzdem warnt die engagierte Wissenschaftlerin davor, Norbert L. als Irrläufer der Evolution zu stigmatisieren. "Wir wissen immer noch viel zu wenig über Sozialverhalten und Kultur der Neandertaler, um uns ein abschließendes Urteil zu erlauben." Norbert L., der von seinem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit beurlaubt wurde, kann der Forscherin nun erstmals Einblicke in diese verloren geglaubte Welt geben.

Seine täglichen Bulletins sind unter www.neanderblog.de auch dem interessierten Laien zugänglich, benutzt L. doch durchaus einfache Werkzeuge wie zum Beispiel einen Laptop. Bürzen jedoch ist nicht unbedingt erfreut über die wachsende Popularität und plädiert dafür, ihre Entdeckung L. in dem von der Kommune jüngst beschlossenen "Norberts Neander-Erlebnispark" durch eine lebensechte Imitation wie beispielsweise seinen Bruder zu ersetzen.

Der Neandertaler selbst erwägt ohnehin den Umzug in eine gemütliche Höhle in der Auvergne, wo er eine Urhorde gründen möchte. Interessierte möchten sich bitte unter rottenfuehrer@neanderblog.de melden. Ein Gentest ist allerdings dringend erforderlich und unbedingt beizulegen.

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