die wahrheit: Eishauch des Expressionismus

Nach so vielen Jahren: Maxe Mommsens Monumentalwerk "Cäsar" taucht wieder auf.

Chor der Mülltonnen: Wir sind nur Stimme. Der gequälten Kreatur. Und lästige Gestalt Bild: dpa

Vor dem Schlafengehen lese ich gern Zeitung. Oft verirre ich mich auch bis ins Feuilleton. Meistens bin ich dann gleich weg, denn da werden immer langweilige Themen wie Gruppe 47, Albert Speer oder Andy Warhol verhandelt.

Diesmal aber war ich gespannt an die Sache herangegangen, denn was ich las, klang vertraut. Etwas aus meiner Jugendzeit: Expressionistisches Drama - das interessierte mich!

"Der junge Mönch: Wir sind umstellt. Du nennst es Einsamkeit. Vergänglichkeit. Ich weiß, es ist die Nachbarschaft des Unerbittlichen. Mutter: Der Mund, der so spricht, ist lallend an meinen Brüsten gewesen. Der junge Mensch: Ich sehe Bilder. Mich würgt die Erinnerung."

Mich würgte sie auch. Alle Schläfrigkeit war verschwunden. Ja, war denn das die Möglichkeit? Das war ja meine Dichtung! Diese Worte hatte doch ich, mit eigener, zehnjähriger Hand niedergeschrieben!

Ich schmeckte noch die geistlose Gemeinheit der eisigen Luft, die mich auf dem Schulweg von vorne angeweht und gegen die ich mich verzweifelt zu wehren versucht hatte - mit Hilfe dieses Theaterstückes.

Alle meine Peiniger waren darin umgekommen, von mir geopfert und genüsslich zu Tode gequält: Mutter, Vater und der Religionslehrer. Wie war das zu erklären? Nochmals las ich die Überschrift des Artikels: "Maxe Mommsen - der vergessene Kaiser des Expressionismus. Muss die Literaturgeschichte neu geschrieben werden?"

Mein Kreislauf stockte. "Cäsar wiederentdeckt überwältigendes Hauptwerk des expressionistischen Dramas Mommsen-Enkel enttarnt das Pseudonym." Mir wurde schwummerig vor Glück. Ich musste mich setzen, merkte indessen, dass ich schon lag. Nur nicht sterben! Jetzt, wo es erreicht ist Ich ermahnte mich weiterzulesen:

"Das vor 90 Jahren entstandene Werk wurde am vergangenen Freitag vom Cheflektor des Berliner Sternheim-Verlags der Presse vorgestellt. Die Gründe für das einstige Nichtpublikwerden des Stückes sind ungeklärt. Maxe Mommsen, der mit bürgerlichem Namen Karl Kalli Hut geheißen hat, starb mit 17 Jahren an einer Lungenembolie. Sein Enkel Hans-Heinz Lothar Hut, der zur Finanzierung einer schweren Krebsoperation jetzt das Mittel der Veröffentlichung des Dramas wählte, erklärte, dass sein Vater es zeit seines Lebens in einem verschlossenen Umschlag aufbewahrt hätte." Ich rang mit der Luft und obsiegte knapp. Karl Kalli Hut? Maxe Mommsen war doch mein Pseudonym gewesen? In der Sekundenohnmacht umtanzten mich die Schattengestalten der Erinnerung. Bei genauerem Hinsehen waren es lebende Mülltonnen, die sangen auf gut Expressionistisch. "Chor der Mülltonnen: Wir sind nur Stimme. Der gequälten Kreatur. Und lästige Gestalt."

Müll. In meinem zermürbten Kopf regte sich etwas. Müll? Karl Kalli Hut? In blitzartiger Helle stand mir dann alles vor Augen: Hut, Hut! Das Schwein!!! Hatte mir also der Hut das Manuskript gestohlen! Wieder stand ich in der kalten Wintermorgenluft des Expressionismus.

Ich war im Schlafanzug auf die Straße gelaufen, so dass mich jeder für einen Irren hatte halten müssen - aber das war mir egal gewesen - ich brach an diesem Morgen mit allen gesellschaftlichen Konventionen.

Mein Innerstes (das Manuskript) - um die hohe Mitternachtsstunde in einem Anfall von Selbstverachtung weggeschmissen - hatte ich damals doch wieder, rechtzeitig vor der Ankunft des Müllautos, aus der Tonne ziehen wollen, aber aber es war fort gewesen!

Verzweifelt und mit den Tränen kämpfend hatte ich den Unrat durchwühlt: die Kartoffelschalen, die Asche, den ganzen Staub und Dreck der Kaiserzeit - doch nichts! Keine Zeile Cäsar. Futsch! Pompeji! Verschüttet! Weg! Weg

Die Müllleute würdigten mich Knirps keines Blickes. Ich riss mir tags darauf alle Haare aus. Erst nachdem sie nachgewachsen waren, vergaß ich langsam, betäubte die aufgewühlte Primanerseele mit Fleiß.

Und dann, nach so unendlich vielen Jahren, war es sonnenklar: Der Hut - Karl Kalli Hut - hatte das Manuskript aus der Mülltonne gestohlen. Hatte nicht der Hut, uninspiriert wie Filz, mir wiederholt mit Prügeln gedroht, wenn ich ihm keinen Einblick in meine Papiere gewähren würde? Hatte er mir nicht mit seinem Finn-Messer beide Reifen am Fahrrad zerstochen?

Hatte mir der Hut nicht aufgelauert, als ich im Hinterhof zur Mülltonne gelaufen war? War die schemenhafte dicke Gestalt, die ich kurz im Hinterhof in einem Schatten bemerkt zu haben glaubte, als ich mit dem Manuskript zur Mülltonne geschlichen war, nicht der Hut gewesen?

Karl Kalli Hut! Ich betrachtete das Zeitungsbild des Hut-Enkels, der sich für einen Mommsen-Enkel ausgab. Erstunken! Erlogen, dachte ich, und die Bilder wirbelten durcheinander

Noch im Erwachen vergab ich allen mit greisenhafter Gnade: dem Hut, seinem Enkel, den Müllleuten und mir selbst. Am Boden lag die Zeitung. Die Strahlen der Morgensonne strichen übers Feuilleton: "Historiker Mommsen: Cäsar - ein alter Hut."

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