die wahrheit: So ist das damals alles gekommen

Über das klassische schwarze Schaf der Familie: "Der Junge will Literatur studieren".

Mit einem gewaltigen Schnauben und einem schrillen Pfiff fuhr die Lokomotive endlich los. Bild: ap

"Literatur?" Großmutter verstand nicht, Urgroßmutter dagegen wohl: Um Gottes Willen!", schrie sie auf, die Augen nach innen drehend, so dass nur zwei Tischtennisbälle sichtbar blieben. "Was?", hakte Großmutter nach. "Der Junge will Literatur studieren!" Großmutter stutzte. Sie überlegte offensichtlich, ob sie das Wort schon einmal gehört hatte, und fing an, ihren Schädel langsam hin und her zu wiegen, während sie mit dem Küchenmesser die Umrisse eines Sarges in die Tischplatte ritzte, und ich wusste nicht, ob es aus Anerkennung oder aus stummem Entsetzen geschah.

Mutter reagierte auf meine Eröffnung, mich an der fernen Universität zum Studium der Literatur einschreiben zu lassen, vollkommen anders. Sie packte den gefüllten, verlockend dampfenden Suppentopf, der bisher nichts ahnend auf dem Herd gestanden hatte, bereit, gleich das Zentrum der Tafel zu bilden, um die sich dann wie jeden Mittag die Urgroßmutter und die Großeltern, die Eltern und zwölf Geschwister sowie Hausknechte und Hausmägde geschart hätten, mit bloßen Händen an seinen beinahe glühenden Henkeln und schleuderte ihn durch die Scheibe des geschlossenen Küchenfensters.

Daraufhin verfiel sie in konvulsivische Zuckungen, die auch durch die große Spritze Kampfer, die der Landarzt - eilends per Fernsprecher herbeigerufen - ihr verabreichte, während wir sie festhalten mussten, nur zögernd verschwanden. "Warum tust du mir das an?", war alles, was mein Vater die nächsten Tage bis zu meiner Abfahrt unentwegt wiederholen konnte: "Wer soll den Hof erben? Was soll nur werden? Jetzt ist alles aus!"

Als ich in den Bus stieg, der mich aus dem Dorf herausbringen sollte, das vor mir zuletzt ein Bruder meines Urgroßvaters dauerhaft verlassen hatte - es wird kurz nach dem Ende des Bauernkrieges gewesen sein -, stand außer meiner jüngsten Schwester niemand am Wegrand, um mir zum Abschied zu winken, bis der Bus am Horizont verschwand.

Eingeklemmt zwischen den Bauern der umliegenden Dörfer, die in die Kreisstadt zum Viehmarkt wollten, zwischen Hausmütterchen, die ins nächste Dorf fuhren, um Flachs zu kaufen oder eine alte Freundin auf dem Friedhof zu besuchen, zwischen Hühnern, Gänsen und kleinen Schweinen in Holzgitterverschlägen auf kittelbeschürzten Schößen und lehmstarrenden Cordhosen, zwischen allen diesen natürlichen und charakteristischen Äußerungen des lebensfrohen Landstrichs, dem meine Familie entstammt, saß ich, ihr einzig ungeratenes, nun gar offiziell ausgestoßenes Mitglied.

Ich umklammerte den Koffer, der meine gesamte Habe enthielt, soweit ich sie für wert befunden hatte, die Reise ins Ungewisse mitzumachen. Vergessen haben konnte ich nichts, denn sowohl meine Kleiderecke im Schrank des gemeinsamen Schlafzimmers, in dem ich neben den Eltern seit der Geburt meiner achten Schwester hatte schlafen müssen (meine zuletzt elf Schwestern schliefen im Raum nebenan), als auch der Winkel im Pferdestall, in dem ich meine wenigen Bücher versteckt gehalten hatte, waren von mir gewissenhaft und vollständig gesäubert worden.

Bei jeder Unebenheit der von Schlaglöchern übersäten Kreisstraße polterten meine Bücher gegen die harten Kofferwände, und die Umsitzenden musterten mich genauso schweigend wie zu Zeiten, als ich zum Kreisgymnasium und wieder zurück gefahren war, welches ich erst nach der Drohung hatte besuchen dürfen, mich an der riesigen Eiche mitten auf dem Dorfplatz aufzuhängen, falls man es mir verbieten sollte.

Schnarrend kam der Bus vor dem viktorianischen Bahnhof der Kreisstadt zum Halten. Der Zug, der mich die vielen hundert Kilometer in die abgelegene Universitätsstadt befördern sollte, wartete bereits, und ich wies dem kurzsichtigen Beamten, der am Schalter saß, meine unendlich teure Fahrkarte vor, für deren Erwerb ich seit meinem ersten Schultag jeden Groschen gespart hatte.

Angsterfüllt verfolgte ich seine, wie mir schien, allzu gewissenhafte Prüfung, bevor er mir sagte, wo der Zug einfahren würde, und ich spürte noch während des gesamten Weges durch die weite Halle, die von anderen Reisenden beinahe leergefegt war, seinen bohrenden, nachforschenden Blick im Rücken. Es kam selten vor, dass hier einer ohne Rückfahrkarte war

Endlos schien die Zeit bis zur Abfahrt. Erst als die Lokomotive mit einem gewaltigen Schnauben und einem dermaßen schrillen Pfiff, dass man ihn sicherlich bis in die Gassen meines nun schon beinahe der völligen Vergessenheit angehörenden Heimatdorfes hat hören können, endlich losfuhr, schneller und schneller werdend und alles mir bis dato Bekannte hinter sich (und auch mir) lassend, fühlte ich mich vor dem bremsenden Zugriff der agrarischen Vergangenheit gänzlich sicher.

Ich warf die Koffer ins Gepäcknetz des leeren Abteils, riss die schwergängigen Schiebefenster herunter und sah hinaus, bis die letzten Gebäude der Kreisstadt verschwanden und nur noch die Ebene das Bild bestimmte. Das Abteil fing an, sich mit Qualm zu füllen, den die Lok in immer größeren Mengen auszustoßen begann. Ich schrie vor Freude und steckte den Kopf aus dem Fenster, bis er beinahe ganz schwarz war vom Ruß. Ja, so ist das damals alles gekommen. Genau so.

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kari

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