Die Wahrheit: Edel wirst du, matter Kopfsalat!

Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (4): Das Mysterium der abseitigen, aber überaus hilfreichen Surig Essigessenz.

Kopfsalate im Beet

Selbst langweilig vor sich hin grünender Salat bekommt mit Surigs Hilfe eine Ausstrahlung Foto: Reuters

Sie war immer da. Möglicherweise schon beim Bau des alten Hauses, aber das will niemand beschwören. Sie stand hinter dem Wasserhahn an der Spüle, also recht gut verborgen. Im Vorbeigehen konnte man sie kaum aus den Augenwinkeln wahrnehmen, wir sahen aber auch nie genau hin.

Es war, als besäße sie eine Art Tarnung, die den nassforschen Betrachter daran hinderte, gezielt in ihre Richtung zu sehen. Nur unter Aufbietung quasi übermenschlicher Kräfte konnte man seinen Blick so konzentrieren, dass er für eine bis eineinhalb Sekunden an ihr haften blieb: „Surig Essigessenz“ stand auf dem Etikett.

Was war mit diesem Rätselwort gemeint? Es vergingen einige Momente des halbherzigen Grübelns – und wir überließen die Essigessenz wieder ihrem stillen Tagwerk des unbeachteten Herumstehens. So gingen die Jahre ins Land, mancher starb, mancher wurde geboren, und unsere merkwürdige Mitbewohnerin war bald wieder vergessen. Bis zu jenem Tag, als sich alles ändern sollte.

Es war an einem Donnerstag im Frühling, die Sonne stand schon so tief, dass sie auf die glänzenden Matten der Bäume gigantische Schatten warf. Wir hatten zu einem Fest geladen, zu dem jeder etwas mitbringen durfte. Also Essen und Getränke oder irgendwas anderes. Alles wurde in der Küche auf dem freigeräumten Tisch fein arrangiert. Auch eine große Schüssel mit grünem Salat war dabei. Als die ersten Gäste sich in der Küche zusammenrotteten und über das Buffet herfielen, erschollen spitze Schreie: „O mein Gott!“ Oder: „Igitt, was ist das denn?“ Und auch: „Welcher Idiot bringt denn so was zu einer Party mit?“

Empörung über Salat

Wie sich herausstellte, galt die Empörung dem grünen Salat. Er sei fad, war die allgemeine Beschwerde, da hätte sich ja wohl jemand keinerlei Mühe gegeben, den Salat wenigstens etwas schmackhaft zu gestalten. Wenn dieser Jemand es schon für ausreichend hielt, ein paar grob gerupfte Blätter Kopfsalat einfach in eine Schüssel zu werfen und mitten unter die anderen Köstlichkeiten – wie zum Beispiel erlesene Fleischbällchen, ausgesuchte Peperonischoten mit Frischkäsefüllung, Kartoffelchips, Erdnussflips, mehrere Schüsselchen Guacamole, Baguette und sogar warmes Chili con Carne nebst Kartoffelsalat, Krabben, neckisch gestaltete Goudaspießchen mit Cherrytomätchen – wenn dieser Jemand das also wirklich für ausreichend hielt …

Die Lage geriet langsam außer Kontrolle. Es bildeten sich Gruppierungen: In der einen wurden Transparente mit der Aufschrift „Nieder mit dem Kopfsalat!“ hochgehalten, in der anderen welche mit „Nicht mit uns!“. Gerade schickte sich jemand an, missbilligend die Stirn zu runzeln, als ein befreiender Schrei von der Spüle scholl: „Alarm zurück! Die haben Surig Essig­essenz!“ Ungläubiges Staunen allerseits. „Die haben was?“

Der schwarzrot gekleidete Schreier mit der Hahnenfeder auf dem Kopf und den drei goldenen Haaren im Bart deutete aufgeregt fuchtelnd auf den fast uneinsehbaren Raum hinter dem Wasserhahn. Die Gruppierungen rotteten sich zusammen und nahmen Stellung vor der Spüle ein. „Surig Essig­essenz“, begann der Schreier nun in beinahe beschwörendem Tonfall zu dozieren, während er auf einen von drei Fliegen gezogenen Holzkarren kletterte, „Surig Essigessenz ist wahrscheinlich ein Wundermittel. Schon meine Großmutter hat mich, da ich ein Kind war, gelehrt, dass man quasi jede Notsituation mit Surig Essigessenz in Wohlgefallen auflösen kann.“

Ungläubiges Raunen allerseits. Western-Klavierklimpern erklang aus dem Nebenzimmer. „Blindheit, Lahmheit, Legesthanie – das alles heilt Surig Essigessenz mit einem Fingerschnippen!“ Der Schreier hätte sich nun eigentlich in Rage reden sollen, aber seltsamerweise verstummte er und verschwand so unbemerkt, wie er gekommen war. Doch der Tumult war angezettelt.

Fackeln und Heugabeln

Die ersten Gäste reckten mit glasigen Augen und grunzend gierig ihre Arme und Hände, sowie alles andere auch, nach der Surig Essigessenz. Fackeln und Heugabeln wurden angezündet. Schon griff jemand frech nach der Flasche. Die Schüssel mit dem grünen Salat wurde herbeigezerrt, um den Salat sogleich unter großem Gejohle in Surig Essigessenz zu ertränken …

Da erscholl ein leises Stimmchen aus einer bisher unbeobachteten Ecke: Ein kleines, wolkengleiches Wesen mit einem beinahe alabasterfarbenen niedlichen Antlitz und flügelartigen Puffärmeln flüsterte: „Das muss man vorher verdünnen, sonst stirbt man.“

Erschreckt zogen sich die Gäste von der Surig Essigessenz zurück. Das wolkengleiche Wesen erklärte den verstörten Anwesenden leise, aber umso eindringlicher: „Surig Essigessenz ist eigentlich nicht zur Verwendung gedacht. Es soll nur einfach an der Spüle jedes Haushaltes hinter dem Wasserhahn stehen, um eventuellen Besuchern ein normales Leben vorzutäuschen. Man kann damit allerdings auch Fenster und Türen putzen, wenn man es drauf anlegt. In Salat sollte man es aber nur verdünnt hineinkippen. Und ein paar Tropfen davon im Badezimmer verspritzt, wird Spinnen für immer fernhalten. Es stinkt nämlich.“

Die Gäste sahen nickend und verstehend einander an und verloren sich sogleich in weisem Meinungsaustausch über die städtische Müllabfuhr und die Lage im Überblick. Bevor sie bei Sonnenaufgang wie von Zauberhand verschwanden.

Und wir blieben zurück mit der Surig Essigessenz, die noch immer regungslos hinter dem Wasserhahn an der Spüle steht. Tag für Tag, Abend für Abend, Nacht für Nacht. Fast scheint es, als würde sie uns beobachten. Und auf wundersame Weise scheint sie uns im Griff zu haben. Gern rücken wir hin und wieder unsere Polsterstühle zu Essenz und Spüle vor und hängen unseren Gedanken nach. Und wir glauben, dass die Surig Essigessenz irgendwann zu uns sprechen wird. Irgendwann …

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kari

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