Bernie Sanders in Berlin: „Mehr mit Millionären anlegen!“

US-Senator Bernie Sanders ist nie Präsident geworden. Doch er mobilisierte viele junge Leute. Heute blickt er enttäuscht auf die Demokratische Partei.

Bernie Sanders, graue Haare, Brille, Anzug, rückt seine Brill zurecht

Immer kämpferisch: Bernie Sanders Foto: Chris Kleponis/epa

taz: Herr Sanders, während wir uns hier treffen, um über Ihr Buch zu sprechen, schaut die Welt auf Israel und Gaza. Nehmen wir an, Sie wären heute US-Präsident. Was würden Sie anders machen als Joe Biden?

Bernie Sanders: Ich bin nicht Präsident. Alles, was ich sagen kann, ist: der terroristische Angriff von Hamas ist unfassbar. Die Folge ist nicht nur, dass Tausende sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite tot oder verletzt sind oder noch sterben werden. Aber es ist auch ein großer Rückschlag, wenn es darum geht, das Leben der Menschen in Gaza zu verbessern und für jeden Versuch, Frieden in der Region zu schaffen. Der Terrorangriff der Hamas wird die Extremisten stärken, sowohl die in Israel, die noch antipalästinensischer werden, als auch die Hamas-Unterstützer, die das Gefühl bekommen, doch militärisch gegen Israel etwas ausrichten zu können. Es ist eine furchtbare Katastrophe für die Menschen, die heute dort leben, und für die Zukunft.

82, sitzt seit 2006 als Unabhängiger im US-Senat. 2016 und 2020 bewarb er sich um die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten. Die taz interviewte ihn vergangene Woche in Berlin, wo er sein bei Klett-Cotta erschienenes Buch vorstellte: „Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“.

Zu Ihrem Buch: Auf vielen Seiten beschreiben Sie Ihre Enttäuschung über das, was aus der Demokratischen Partei geworden ist. Sie insinuieren, dass der Wahlsieg Donald Trumps hätte vermieden werden können, wenn Sie anstelle Hillary Clintons 2016 die Vorwahlen gewonnen hätten. Ist das so?

Ja. Ich glaube, dass die Demokratische Partei über die Jahre den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung den Rücken zugekehrt hat. Die Arbeiterschaft in den USA – und ich bin mir nicht sicher, dass der Rest der Welt das wirklich verstanden hat – sieht sich enormen Problemen gegenüber. Der Wochenlohn eines Arbeiters ist heute niedriger als vor 50 Jahren. Sie verfolgen vielleicht den Streik der United Automobil Workers: Was in der Autoindustrie passiert ist, ist im ganzen Land geschehen: In den vergangenen 20 Jahren sind die Reallöhne um 30 Prozent gesunken. Gleichzeitig erhalten die Vorstände unanständig hohe Vergütungen.

Unser Gesundheitssystem funktioniert nicht, unser Bildungssystem steckt in Problemen. Die Demokraten haben nicht genug unternommen, um an der Seite der Arbeiterklasse zu stehen. Wir haben versucht, die Demokratische Partei so zu erneuern, dass sie ihre Tore für Arbeiter öffnet, für junge Leute, für Peop­le of Colour, um dem Land eine Richtung zu geben und uns mit den Interessen des großen Geldes anzulegen, die über so viel Macht verfügen.

Das ist eine einfach nachzuvollziehende Analyse – warum passiert das denn nicht?

Weil diejenigen, die an der Spitze der Demokratischen Partei stehen, zufrieden sind damit, wie es ist. Es läuft gut für sie, und sie sind glücklich damit. Sie glauben, dass sie Wahlen gewinnen können – und Biden hat ja auch gewonnen. Sie glauben, dass sie Wahlen mit Themen wie Frauenrechten, LGBTQ-Rechten und den Rechten ethnischer Minderheiten gewinnen können. Das sind alles wichtige Themen und ich unterstütze jedes einzelne vehement – aber wir müssen mehr tun als das, wir müssen uns auch mit der wirtschaftlichen Krise der Arbeiterklasse auseinandersetzen. Und darüber ist die Demokratische Partei gespalten.

In Deutschland haben wir die rechte AfD, die mit dem Slogan wirbt: „Wir stehen an deiner Seite“ – aber wenn man sich ihr Programm anschaut, ist das Gegenteil der Fall, es ist Politik für die Wohlhabenden. Trotzdem werden sie von immer mehr Menschen gewählt. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Ich kenne mich in Deutschland zu wenig aus, aber es könnte tatsächlich ähnlich sein. In ländlichen Gebieten der USA wählt die weiße Arbeiterklasse überwiegend Trump. Wenn die Rechten in Deutschland behaupten: „Wir stehen an deiner Seite“, dann ist es das, was arbeitende Menschen in den USA fragen: Wer steht an unserer Seite? Und nur sehr wenige von ihnen glauben, dass das die Demokratische Partei ist. Es geht darum – und ich kann mir vorstellen, dass das hier genauso ist –, dass man sich wirklich mit den Milliardären anlegen muss, wenn man Fortschritte für die arbeitende Bevölkerung erzielen will. Und ich bezweifle, dass die Rechte hier in Deutschland dazu bereit ist, ganz sicher sind es die Republikaner in den USA nicht. Ihr Slogan ist also verlogen, aber sie haben damit Erfolg. Aber gibt es eine Linke, die wirklich für die Interessen der Arbeiterschaft kämpft?

Sehen Sie denn irgendeine Chance, dass sich die Demokratische Partei in diese Richtung verändern könnte?

Wir haben bereits große Fortschritte gemacht. Im Repräsentantenhaus gibt es die progressive Parlamentariergruppe (House Progressive Caucus), der heute über 100 Abgeordnete angehören. Und Dutzende von ihnen sind überzeugte Progressive, die für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen, oft junge People of Colour. Es ist die machtvollste Repräsentation progressiver Ideen in der Geschichte der USA. Wir machen Fortschritte im ganzen Land. Aber ich will nicht verhehlen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt.

Die Republikaner haben ja große Teile ihres Wahlkampfes darauf aufgebaut, selbst Joe Biden als Linksradikalen darzustellen, der die USA zerstören wolle, sodass auf demokratischer Seite immer eher ausgeglichen und der linke Anteil kleingeredet wurde …

Ich glaube nicht, dass das stimmt. Vor Kurzem erst hat der Präsident einen Vorschlag vorangebracht, der ein kleiner Teil dessen war, was als Green New Deal bekannt ist. Er hatte kein Problem damit, dass Alexandria Ocasio-Cortez und ich das vorgestellt haben. Und ich bin ziemlich häufig im Weißen Haus.

Meinem Eindruck nach sind die Demokraten in den vergangenen 20 Jahren – abgesehen von der Stärkung des linken Flügels – mehr oder weniger gleich geblieben, während die Republikaner kaum wiederzuerkennen sind. Im US-System von Checks und Balances muss man mit ihnen arbeiten, um irgendetwas zu verändern. Wie soll das gehen?

Ja, das ist schwierig, das Problem haben wir. Derzeit gibt es nicht einmal einen Speaker im Repräsentantenhaus. Ich bin der Vorsitzende eines wichtigen Senatsausschusses und wir versuchen unser Bestes, vielleicht haben wir Erfolg, vielleicht nicht. Aber in diesem Kongress grundlegende Gesetzesvorhaben voranzubringen, ist tatsächlich nicht einfach.

Sie haben bereits viele der Themenfelder aus Ihrem Buch erwähnt, von Gesundheitsversorgung über Löhne, soziale Sicherheit, Bildung, Wohnen … Was wäre aus Ihrer Sicht das am drängendsten zu bearbeitende Thema?

Aus einer globalen Perspektive natürlich Klima, denn die Zeit läuft unserem Planeten davon. In den USA habe ich mich immer für das Thema Gesundheit eingesetzt, denn unser Gesundheitssystem ist eine vollkommene Katastrophe. Wir müssen das verändern und die Kosten für Medikamente senken. An dieser Aufgabe arbeite ich sehr hart.

Auf internationaler Ebene sehen wir eine Kräfteverschiebung: Während die USA unmittelbar nach dem Kalten Krieg die einzige verbliebene Supermacht waren, erleben wir jetzt den Aufstieg Chinas und einen größeren Anspruch des Globalen Südens. Sehen Sie das als gute oder gefährliche Entwicklung?

Auf der einen Seite ist das sehr gefährlich. Der Krieg in der Ukraine ist in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe. Putins imperialistische Ambitionen sind eine echte Bedrohung für die Welt. Aber wenn man wieder auf die Klimakrise schaut: Wir stehen an einem einzigartigen Moment. Deutschland und die USA könnten energiepolitisch alles richtig machen, aber wenn wir China und die ölproduzierenden Staaten, wie Saudi-Arabien, nicht an Bord bekommen, werden wir nichts lösen.

Nie zuvor war die Notwendigkeit größer, alle Staaten der Welt zusammenzubringen. China ist heute der größte CO2-Emittent der Welt, das kann man nicht ignorieren. Wir arbeiten hart daran, einen Kalten Krieg zwischen den USA und China zu verhindern. Russland ist eine andere Geschichte, ist weiß nicht wirklich, was man da machen kann.

Der Titel Ihres Buches lautet: „Es ist Okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“. Kapitalismus ist, simpel gesagt, die Wurzel allen Übels. Wir scheinen nun wirklich nicht auf dem Weg, den Kapitalismus zu überwinden – sehen Sie trotzdem eine Chance, die Probleme der Welt zu lösen?

Wir überwinden den Kapitalismus nicht nur nicht, wir stellen ihn nicht einmal zur Diskussion. Wenn es in meinem Buch um eines geht, dann um die zwei Wirklichkeiten, die es derzeit gibt: Für einfache Leute in Deutschland oder in den USA werden die Dinge immer schlechter. Haushaltseinsparungen, Einkommensverlust durch Inflation, in meinem Land ist die Gesundsheitsversorgung eine Katastrophe. Aber auf der anderen Seite, und das ist ein wichtiger Punkt, der von viel zu wenigen ausgesprochen wird: Für die Leute an der Spitze war die Lage in der gesamten Geschichte der Menschheit niemals besser. Allein in den vergangenen drei Jahren gingen zwei Drittel des neu geschaffenen globalen Wohlstandes an das obere 1 Prozent. Denen geht es unglaublich gut! Und mit ihrem Reichtum haben sie Macht. Das ist die Auseinandersetzung, in der wir stehen: Wie nimmt man ihnen die Macht weg, wie gestalten wir eine Wirtschaft für alle, eine wirklich demokratische Gesellschaft? Das ist wahrlich nicht einfach. Aber wir müssen wenigstens verstehen, dass das der Kampf ist, der geführt werden muss.

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