Ein Loch in der Fensterscheibe des Jüdischen Krankenhauses in Berlin-Wedding Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Jüdisches Leben in Deutschland:„Nie wieder ist jetzt“

Israel reagiert auf den Terror der Hamas in Gaza – und Jüdinnen und Juden in Deutschland werden angefeindet. Wie gehen sie damit um? Vier Protokolle.

1.11.2023, 14:50  Uhr

„Mittlerweile werden wir bewacht

Fünf oder sechs Mal am Tag klingelt bei uns derzeit im Restaurant Schalom das Telefon. Es sind Gäste, die ihre Reservierungen stornieren. Sie sagen, dass sie Angst haben, zu uns zu kommen. Sie wollen ihre Kinder keinem Risiko aussetzen. Einige von ihnen sagen, dass sie gerne in sechs Monaten wieder zu uns kommen, wenn es uns dann noch gibt. Was meinen sie damit? Gehen sie davon aus, dass unser Restaurant bis dahin geschlossen ist oder dass wir erschossen wurden?

Dass die Polizei bei uns Streife fährt, ist nicht neu, doch mittlerweile werden wir bewacht. Am Freitag, dem 13. Oktober, hatte die Hamas zum „Tag des Zorns“ auf der ganzen Welt aufgerufen. An diesem Tag haben wir den Geburtstag meiner Frau im Restaurant gefeiert, und das mit ständigem Blick auf die Polizei. Natürlich gibt es einem auch ein Gefühl von Sicherheit, aber es wird auch permanent visualisiert: Hier stimmt etwas nicht.

Am 11. Oktober waren wir bei einer proisraelischen Kundgebung in Chemnitz, da gab es Gegendemonstranten mit palästinensischen Flaggen, die haben gerufen: „Wir werden euch alle aufschlitzen.“ Als meine Frau, das Gespräch mit ihnen gesucht hat, haben sie ihr das auch direkt an den Kopf geworfen. Wir haben natürlich Anzeige erstattet, doch es kann ja nicht sein, dass das Alltag in Chemnitz ist.

Natürlich erfahren wir auch Solidarität – immer wenn Hakenkreuze an unsere Wände gemalt werden oder auch nach einem Anschlag durch Neonazis 2018 auf mich und mein Restaurant. Kürzlich habe ich mein Restaurant für einen Tag geschlossen, einfach um meinen Mitarbeitern und mir eine kurze Pause zu gönnen von dem ganzen Krieg, Krieg, Krieg. Da habe ich sofort dutzende besorgte SMS bekommen, ob etwas los sei? Das ist zwar nett gemeint, aber auch anstrengend.

Denn gute Worte sind schnell gesprochen, sag ich mal. Ich möchte das auch gar nicht kritisieren, es ist schön, wenn Menschen ihr Mitgefühl zeigen, aber das kommt und geht halt in Wellen. Letztlich sind wir aber ein normales Restaurant und ich wünsche mir, dass die Menschen nicht aus Betroffenheit zu uns kommen, sondern aus Neugier aufs Essen.

Uwe Dziuballa, 58 Jahre, Gastwirt in Chemnitz

„Es kommen deutlich weniger Juden in die Synagoge“

Der 7. Oktober war ein Schock für mich, für uns alle. Ich habe noch nie so viel geweint wie in den Tagen danach. Mir war ziemlich schnell klar, dass die Massaker der Hamas in Israel Auswirkungen auf Deutschland haben werden, das kenne ich aus der Vergangenheit. Ich bin in einen Waffenladen gegangen und habe gefragt: Was kann ich denn tun, um mich auf legale Weise zu verteidigen? Und ich habe für meine Familie und mich Pfefferspray gekauft.

Diese Angst spüre ich überall. Es kommen deutlich weniger Juden in die Synagoge. Einer der Besucher hat sie neulich betreten, ohne dass der Sicherheitsdienst es bemerkt hat. Danach ist fast eine Hysterie in der Gemeinde ausgebrochen, wie das denn sein könne. Das zeigt einfach, wie wenig Sicherheitsgefühl gerade bei vielen da ist. Aber nicht nur Juden haben Angst, wir machen auch regelmäßig Führungen für Schulklassen in der Synagoge. Und bei der letzten, die meine Schwester geleitet hat, haben zehn Kinder gefehlt.

Auch ich bin viel vorsichtiger geworden in der Pforzheimer Innenstadt. Niemals würde ich einer Gruppe arabischer Jugendlicher sagen, dass ich Jude bin. Schon lange trage ich in der Öffentlichkeit keinen Davidstern mehr. Ich fürchte, dass die Erfahrungen der letzten Wochen dazu führen, dass jüdisches Leben in Deutschland immer unsichtbarer wird.

Ein Großteil meiner Familie wohnt in Israel. Meine Cousine überlegt, mit ihrer Familie nach Deutschland zu kommen. Sie hat gefragt, wie die Situation hier gerade ist, weil ihre Kinder hebräisch sprechen. Und, ganz ehrlich, ich würde ihr davon abraten, in der Pforzheimer Innenstadt auf der Straße hebräisch zu sprechen.

Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich noch nie so viel Support erlebt habe wie in den letzten Wochen. Leute rufen an, kommen unangekündigt bei uns zu Hause vorbei – und das will schon etwas heißen in Deutschland. Da habe ich wirklich Glück mit meinem Umfeld. Aber gesellschaftlich sehe ich immer weniger Safe Spaces für Juden. Mit Rechten wollen wir selbstverständlich nichts zu tun haben. Ich selbst habe mich lange sicher gefühlt unter Linken, aber jetzt sehe ich, wie dort die Hamas-Propaganda immer mehr Anschluss findet.

Leider notwendig: Polizei vor der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Hannover Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Und die Mitte der Gesellschaft? Die spricht zwar Solidarität aus, aber wenn Juden anfangen sich zu verteidigen, passt ihnen das auch nicht und antisemitische Einstellungen können zum Vorschein kommen.

In Pforzheim ist es bislang verhältnismäßig ruhig geblieben, aber wenn ich die Bilder der sogenannten propalästinensischen Demos aus Paris, Berlin oder London sehe, finde ich das nur gruselig. Wir Juden wussten immer, dass wir nach Israel können, wenn es hier zu brenzlig wird, da nur in Israel die Sicherheit der Juden wirklich uneingeschränkt Staatsräson ist. Aber diese Gewissheit wurde am 7. Oktober durch die Hamas-Terroristen erschüttert. Deshalb müssen diese Terroristen unschädlich gemacht werden. Nie wieder ist jetzt.

Michael, 34 Jahre, Start-up-Gründer aus Pforzheim

„Ich bin empört, was in Deutschland passiert“

Als ich am 7. Oktober von den Massakern in Israel hörte, war ich zutiefst schockiert. So sehr, dass ich anfing zu weinen und über den Teppich in meiner Wohnung stolperte und stürzte. Seitdem liege ich im Krankenhaus.

Ich bin empört darüber, was in Deutschland passiert. Synagogen werden angegriffen, Palästinenser demonstrieren und feiern die Hamas. Von der deutschen Regierung fühle ich mich im Stich gelassen. Was tut sie, damit wir Juden hier sicher leben können? Als am 13. Oktober von der Hamas zum weltweiten „Tag des Zorns“ gegen Israel aufgerufen wurde, hat mein Sohn entschieden, seine Kinder, meine Enkel, nicht in die Schule zu schicken. Sie besuchen das jüdische Gymnasium in Frankfurt. Mein Sohn hatte zu viel Angst davor, dass ihnen etwas passieren könnte. Seitdem fährt er die Kinder morgens mit dem Auto zur Schule. Nachmittags gehen meine Enkel und ihre Mitschüler in Gruppen nach Hause, niemals alleine.

Ich bin 82 Jahre alt. Und ich habe keine Angst. Denn ich habe schon das Schlimmste in meinem Leben erlebt und überlebt. Als die Deutschen 1941 nach Kaunus in Litauen einmarschierten, musste meine Familie ins Ghetto übersiedeln. Ich war damals gerade erst sechs Monate alt. Meine gesamte Familie wurde später von den Deutschen ermordet, nur ich nicht. Mein Vater hatte mich aus dem Ghetto geschmuggelt. Er gab mir ein Schlafmittel, damit ich nicht schreien würde und trug mich in einem Kohlesack gemeinsam mit einem anderen Mädchen aus dem Ghetto. Den Krieg überlebte ich dann in einem Versteck auf dem Land außerhalb von Kaunus und in einem Kinderheim.

Später, nach dem Krieg, wurde ich adoptiert und zog nach Russland. Mein Adoptivvater sagte immer zu mir: Wenn Hitler nicht geschafft hat, dich umzubringen, kann niemand es schaffen. Wir Juden geben niemals auf, wir gehen immer vorwärts. Das ist der Grund, warum unser Volk seit fast 6.000 Jahren lebt, obwohl wir immer wieder verfolgt und getötet wurden. Natürlich hat Israel, wie jedes andere Land, viele politische Probleme. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurde – zu Recht – in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Für mich ist jetzt trotzdem klar: Ich stehe an der Seite Israels.

Eleonora Volskaya, 82 Jahre, Rentnerin aus Darmstadt

Lückenhafte Datenlage Es gibt in Deutschland unterschiedliche Stellen, die diese Zahlen zusammentragen – und die ihre jeweils eigene Methodik haben. Zusammengeführt werden die Zahlen wiederum nicht. Ein weiteres Problem: Antisemitische Handlungen und Straftaten werden oft politisch rechts verortet. Die polizeiliche Kriminalstatistik ordnet 82,73 Prozent von insgesamt 2.641 antisemitischen Straftaten in 2022 dem rechten Spektrum zu. Lediglich 0,3 Prozent werden dem linken Lager zugeordnet.

Sprunghafter Anstieg Die bundesweite Meldestelle Recherche- und Informationsstelle Antismemitismus (Rias) schreibt in ihrem jüngsten Bericht, dass für den Zeitraum vom 7. bis zum 15. Oktober 2023 bundesweit 202 antisemitische Vorfälle zu verzeichnen waren. Das bedeutet einen Anstieg von 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Acht Prozent der Vorfälle haben demnach einen dezidiert islamistischen Hintergrund, vier Prozent einen „linken/antiimperialistischen“ und nur knapp zwei Prozent einen rechtsextremen Hintergrund. Die restlichen Fälle lassen sich in ihrer politischen Motivation nicht klar zuordnen. Rias zählt antisemitische Vorfälle allerdings auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – darin unterscheidet sich diese Statistik grundsätzlich von derjenigen des Innenministeriums.

Das sagt die Expertin „Für ein realistisches Bild von antisemitischen Taten und Täter*innen-Verhalten braucht es am besten eine Triangulation, bei der man die Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik, das Monitoring von Rias und Betroffenenperspektiven gemeinsam betrachtet“, erklärt die Antisemitismus-Forscherin Sina Arnold von der TU Berlin. Und mit Blick auf linken Antisemitismus: „In Teilen der Linken fanden sich reflexhafte Solidarisierungen mit der Hamas und mit einem vermeintlichen palästinensischen ‚Befreiungskampf‘ “ nach dem 7. Oktober. Es sei eine „Glorifizierung von antisemitischen Massakern“ zu beobachten gewesen. Als ideologische Begründung dieser Haltung dienten Antiimperialismus, Antirassismus, Antikolonialismus und andere linke Grundwerte. Yelizaveta Landenberger

„Was seit dem 7. Oktober passiert ist, erlebe ich als gesellschaftlichen Rückschritt“

Am 24. Februar 2022, dem russischen Überfall auf die Ukraine, dachte ich: Es kann nichts Schlimmeres mehr passieren. Ich bin in der Ukraine geboren, habe dort noch Familie. Was mir damals geholfen hat, war die große Solidaritätsdemonstration wenige Tage nach dem Angriff in Berlin. Hunderttausende haben damals gezeigt, dass sie an der Seite der Ukraine stehen.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Ich habe das Gefühl, viele Menschen in Deutschland vergessen das manchmal. Ich fürchte, dass die Unterstützung dadurch nachlassen wird. Und nun kommt noch hinzu, dass ich nicht verarbeiten konnte, was am 7. Oktober in Israel passiert ist.

Ich habe am Tag des Hamas-Massakers meine Familie besucht. Erst am Abend hatte ich Zeit, auf mein Handy zu schauen. Ich war in Schock und sah direkt Instagram-Posts von Menschen, die ich persönlich kenne, die diese Taten rechtfertigten. Diese Menschen wissen, dass ich Jüdin bin. Niemand von diesen Leuten hat angeprangert, wie schrecklich ist, was in Israel passiert. Stattdessen las ich Relativierungen und Sätze wie: Ihr seid doch selber daran schuld. Das ist klassische Täter-Opfer-Umkehr. Wie nennt man so etwas? Verrohung?

Mittlerweile ist ein Grad an Hoffnungslosigkeit erreicht, der schwer in Worte zu fassen ist. Die Angst überwiegt. Mein Vertrauen wurde mir geraubt. Es fehlt der Rückhalt aus einem progressiven Milieu, von Menschen, die sich sonst gegen jedes Unrecht positionieren. Wiederum andere, die sonst laut sind, sagen nichts. Stille. Ich verstehe nicht, wie man bei dieser Unmenschlichkeit, nach so einem Massaker, schweigen kann. Ich bin viel im Kunst- und Kulturbereich unterwegs, gehe gerne zu Lesungen, Ausstellungen. Ich habe jetzt Angst, dort hinzugehen. Weil ich keine Lust habe auf Diskussionen, auf Vorwürfe.

Mein Partner, meine engsten Freunde und meine Familie sind an meiner Seite. Das bestärkt mich. Eine Freundin schickte mir sogar eine Karte aus der Schweiz und schrieb, dass sie mir Trost spende.

Als jüdische Häuser in Deutschland mit einem Davidstern markiert wurden, hat mir mein Cousin aus der Ukraine ein Foto davon geschickt und gefragt: Was passiert da bei euch? Gestern habe ich mit meiner Mutter telefoniert und mit ihr über den antisemitischen Mob in Dagestan [eine muslimisch geprägte Teilrepublik im Nordkaukasus, d. Red.] gesprochen, der den Flughafen gestürmt und nach Juden in einem ankommenden Flug aus Tel Aviv gesucht hat. Ich fragte meine Mutter: Das musst du doch aus der Sowjetunion kennen? Sie sagte: Nein, nicht in dem Ausmaß.

Erst während meines Studiums habe ich angefangen, darüber zu sprechen, dass ich Jüdin bin – und nicht nur Ukrainerin. Mir wurde beigebracht, das nicht zu erzählen. Ich habe diese Angst eigentlich nie wirklich verstanden – bis jetzt. Was seit dem 7. Oktober passiert ist, erlebe ich als gesellschaftlichen Rückschritt. Ich werde jetzt mir zweimal überlegen, ob ich Fremden gegenüber offen erzähle, dass ich Jüdin bin.

Anastassija Kononowa, 33 Jahre, kam in den 90er Jahren aus der Ukraine nach Deutschland

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