Angriff auf Gedenken: Mehr als nur ein paar Bäume

Der Bau einer S-Bahn-Strecke gefährdet das Berliner Denkmal für ermordete Sinti und Roma. Nicht nur Vertreter der Minderheit wehren sich dagegen.

Blick auf das von Bäumen umgebene Denkmal für die von den Nazis ermordetenen Sinti und Roma in Berlin

Gedenkstätte für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten Foto: Jürgen Ritter/imago

BERLIN taz | „Wir haben keine Wahl“, sagt Noa Karavan-Cohen. „Jahrelang haben wir für dieses Mahnmal geworben und gearbeitet. Wir werden nicht tatenlos zusehen, wie es jetzt einem Akt der Gewalt und des Vandalismus zum Opfer fällt.“ Noa Karavan-Cohen ist eine der beiden Töchter des israelischen Künstlers Dani Karavan, der das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin gestaltet hat. Im Jahr 2012 wurde es feierlich eröffnet. Etwas mehr als zehn Jahre später ist es in Gefahr.

Das Denkmal befindet sich in einem unscheinbaren Winkel am äußersten Rand des Berliner Tiergartens. Tausende Touristen strömen dort auf dem Weg vom Brandenburger Tor zum Reichstag täglich vorbei. Sie können es leicht übersehen, denn nur ein schmales Tor in einer Wand aus milchglasfarbenen Glasplatten führt auf das Gelände. Dort, von gläsernen Informationstafeln umringt, befindet sich ein runder Brunnen und in dessen Mitte ein dreieckiger Stein, auf dem eine frische Blume liegt. Das Dreieck soll an den Häftlings-Winkel erinnern, den Sinti und Roma in den deutschen Konzentrationslagern tragen mussten. Die Blume auf dem Stein wird regelmäßig erneuert – als „Symbol des Lebens, der Trauer und der Erinnerung“, wie der 2021 verstorbene Künstler Dani Karavan vor seinem Tod verfügte.

Schätzungsweise eine halbe Million Sinti und Roma – Männer, Frauen und Kinder – ermordeten die Nationalsozialisten bis 1945. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist der Porajmos (Romanes für „das Verschlingen“), der Völkermord an den Sinti und Roma Europas, aber wenig verankert. Das zeigt sich jetzt wieder: Die Deutsche Bahn plant in der Hauptstadt eine neue S-Bahn-Strecke, deren Tunnel am Denkmal entlang verlaufen soll. Ursprüngliche Pläne gingen so weit, das Denkmal für die Bauarbeiten temporär abzubauen und zu schließen. Jetzt schlägt die Bahn eine alternative Trassenführung vor, die den Ort aber immer noch einschneidend verändern würde.

„Das würde das Denkmal ruinieren“, sagt Noa Karavan-Cohen. „Manche sagen: Es geht doch nur um sieben Bäume. Aber ohne die Bäume wäre der Ort nicht mehr der gleiche.“ Denn sieben Bäume wären nur innerhalb des Mahnmal-Geländes selbst betroffen. Aber außerhalb des Geländes müssten 40 weitere Bäume gefällt werden. Und: Wenn der Tunnel wie vorgesehen gegraben wird, kann man dort keine Bäume dieser Größe mehr einsetzen, sondern bestenfalls noch ein paar Büsche. „Mehr gäbe der Boden dann nicht her“, sagt Karavan-Cohen. Das würde den Charakter des Gedenkorts stark verändern. „Es ist wie ein geschlossener Garten. Man sieht und hört die Stadt um sich herum nicht“. Ohne die Bäume würde der Platz offener daliegen und den Blick auf die Umgebung freigeben.

Denkmal wurde „weitgehend übersehen“

Das sieht auch die Historikerin Jana Mechelhoff-Herezi so. Sie arbeitet bei der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Das vom Architekten Peter Eisenman entworfene und 2005 eröffnete Stelenfeld mit Museum unweit des Brandenburger Tors ist weltweit bekannt und ein Besuchermagnet. Das Roma-Denkmal ist eines von drei weiteren Denkmälern, das von ihrer Stiftung betreut werden, Mechelhoff-Herezi ist dafür zuständig. Das Roma-Denkmal sei bei den Planungen anfangs „weitgehend übersehen“ worden, sagt sie. Fest stand nur, dass die S-Bahn-Trasse nicht zu nah am Reichstag oder am Holocaust-Mahnmahl entlangführen sollte. Das Roma-Denkmal sei dagegen als vernachlässigbare Größe behandelt worden – und im Grunde gelte das bis heute.

Jana Mechelhoff-Herezi, Historikerin

„Würde man am Holocaust-Denkmal herumgraben, gäbe es sicher heftigere Reaktionen“

„Würde man am Holocaust-Denkmal herumgraben, dann gäbe es sicher heftigere Reaktionen“, meint sie. Zudem habe sich der Zentralrat der Sinti und Roma sehr entgegenkommend gezeigt – aus Furcht, andernfalls antiziganistische Reaktionen zu provozieren. „Der Zentralrat war lange der einzige Ansprechpartner der Politik“, sagt Mechelhoff-Herezi. Er spräche aber nicht für die Mehrheit der Sinti und Roma in Deutschland. Zudem habe das Denkmal europäische Relevanz. Schließlich lebt die Mehrheit der Sinti und Roma in Osteuropa und in Spanien.

Der Musiker und Politiker Romeo Franz vertritt die Bundesvereinigung der Sinti und Roma und sitzt für die Grünen im EU-Parlament. Mehrere seiner Angehörigen starben einst in Konzentrationslagern, seinem in Auschwitz ermordeten Großonkel ist am Denkmal eine Tafel gewidmet. Romeo Franz hat auch eine Melodie komponiert und eingespielt, die man hört, wenn man den Gedenkort betritt.

Sollte der Berliner Senat an den Plänen der Deutschen Bahn festhalten, wäre das „ein Schlag ins Gesicht“ der Betroffenen, sagt Franz, eine „Ohrfeige sondergleichen“. Dass dem Roma-Denkmal gegenüber nicht so viel Sensibilität wie dem Holocaust-Mahnmahl entgegengebracht werde, empfindet er als „Missachtung“ seiner Minderheit. Sollte keine andere Trassenführung gefunden werden, „dann wird es sicher Proteste geben“, sagt Franz voraus. „Dann kann sich die Senatorin auf heftigen Gegenwind gefasst machen, auch auf europäischer Ebene“. Er hoffe aber, dass es noch anders komme.

Ende September lud der Berliner Senat zu einem Krisengespräch, an dem Vertreter verschiedener Roma-Organisationen, der Denkmalsstiftung sowie Noa Karavan-Cohen teilnahmen. Dort präsentierte die Deutsche Bahn ihre Pläne als letztlich alternativlos. Noa Karavan-Cohen, Romeo Franz und andere wandten sich darauf Mitte Oktober in einem offenen Brief an die zuständige Senatorin Manja Schreiner (Verkehr) und ihren Kollegen Joe Chialo (Kultur), beide in der CDU, und pochten erneut auf eine alternative Route. Dass ausgerechnet die Deutsche Bahn – als Nachfolgerin der Reichsbahn, die Sinti und Roma einst zu Tausenden in den Tod deportierte – die Zukunft des Denkmals bedroht, stößt ihnen besonders bitter auf. Unterzeichnet haben den Brief zahlreiche Fachleute und Prominente, darunter der Dirigent Daniel Barenboim, Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die Schauspielerin Iris Berben und der Regisseur Wim Wenders.

Zum Stand der Planungen hüllen sich die zuständigen Senatoren Schreiner und Chialo seitdem in Schweigen: Man wolle sich nicht äußern, weil man noch mit allen Beteiligten im Gespräch sei. Es sei aber „davon auszugehen, dass der Senat zeitnah eine Entscheidung fällt“, heißt es aus dem Haus der Verkehrssenatorin.

Die neue Bahnstrecke sei „ein wichtiger Baustein für ein zukunftsfähiges Berliner S-Bahn-System“, erklärte indes ein Bahnsprecher der taz. Der Schutz des Denkmals nehme „eine Schlüsselrolle“ ein. Ein endgültiges Votum für eine konkrete Bauvariante stehe aber noch aus.

Noa Karavan-Cohen ist skeptisch. In dieser Woche könnte eine endgültige Entscheidung fallen, hat sie gehört. „Mein Eindruck ist: Die Deutsche Bahn will nicht von ihren Plänen abrücken. Sie besteht darauf. Und wir können das nicht akzeptieren.“ Sollte sich der Berliner Senat dafür entscheiden, den Plänen der Bahn zu folgen, werde sie dagegen vor Gericht ziehen. „Es ist unsere Verantwortung und Pflicht, das Kunstwerk zu bewahren.“

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