Studie zu Meinungsfreiheit: Gefühle sind keine Tatsachen

Auf den Satz „Man darf ja gar nichts mehr sagen“ folgen oft Salven ungefragter Meinungsäußerungen. Das ist ein Selbstwiderspruch – und blöder Quatsch.

Junge Frau streckt die Zunge heraus.

Meinungsfreiheit in Deutschland ist ein hohes Gut Foto: Mona Alikhah/plainpicture

Jetzt ist es auch bei meinen Freunden so weit: „Man kann heute nicht mehr sagen, was man denkt“, sagte ein Freund neulich bei einem zunächst wunderbaren Treffen. Wir saßen am warmen Kamin bei Kaffee und Kuchen, ein launiger Adventssonntag.

Doch dann kam der Freund mit diesem Satz um die Ecke. Er hatte ihn noch gar nicht zu Ende gesprochen, da leierte ich schon mit den Augen: Nein, bitte, nicht, nicht solche Debatten jetzt auch noch im Freundeskreis. Es reicht schon, wenn ich so was auf Social Media lesen und in der Straßenbahn hören muss. Und nun zeigt eine Umfrage der Meinungsforschungsinstitute Allensbach und Media Tenor, dass 44 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein zu müssen.

Meine Freund:innen, da war ich sicher, marschieren in dem Trott unreflektierter Medien- und Politik-Kri­ti­ke­r:in­nen nicht mit. „Nicht dein Ernst, echt jetzt?“, fauchte ich den Freund an.

Er könne sich mit seinen Kol­le­g:in­nen nicht mehr offen über Flüchtlings-, Klima-, Bildungspolitik unterhalten, sagte er. Er legte sich mit ihnen bis vor kurzem über die Gen Z an, übers Autofahren, übers Gendern. Jetzt aber schweige er lieber. „Weil sie mich schneiden, wenn ich etwas sage, was nicht ihrer Meinung entspricht“, sagte er. Um dann hinterherzuschieben: „Aber ich werde trotzdem immer wieder sagen, was ich denke.“

Gefühlte Wahrheit und tatsächliche Realität

Ich leierte erneut mit den Augen und konterte: „Du widersprichst dir selbst und merkst es nicht einmal.“ Dieser Moment offenbart die Kluft, in der viele dieser selbstverordneten Lei­se­tre­te­r:in­nen – vermutlich komplett unbewusst – hängen: zwischen gefühlter Wahrheit und tatsächlicher Realität. Es mag so müßig wie nötig sein zu betonen, dass Meinungsfreiheit in Deutschland nicht nur ein hohes Gut, sondern verfassungsrechtlich gesichert ist. Wäre es nicht so bitter, könnte man laut lachen, wenn erneut jemand auf X, Facebook oder Instagram herausposaunt: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“

Der aktuelle Umfragewert, der eine Gefühlslage und keine Tatsachen widerspiegelt, steht in krassem Gegensatz zu den Zahlen von 1990: Kurz nach dem Mauerfall glaubten 78 Prozent der Menschen hierzulande, frei ihre Meinung äußern zu können.

Was ist los seitdem? Und vor allem: Was ist im Osten passiert?

Dort ist die Skepsis gegenüber dem freien Wort größer als im Westen. Müssten nicht gerade Ostdeutsche mit ihrer Erfahrung für laut geäußerte Kritik am einstigen Staat, am damaligen Regierungschef Erich Honecker, am kruden Überwachungssystem Meinungsfreiheit besonders wertschätzen?

Vergessen der eigenen Vergangenheit

Manch einer musste sich wegen eines unbedarften systemkritischen Witzes vor der SED-Parteileitung rechtfertigen, zahlreiche Dissidenten wanderten, bevor sie in den Westen abgeschoben wurden, zunächst in den Stasi-Knast.

Oder anders gesagt: Wenn es irgendwo keine Meinungsfreiheit gab, dann in der DDR. So wie sie es heute nicht in Russland gibt, nicht in Nordkorea, Iran, Afghanistan, China, Saudi-Arabien.

Ihre Vergangenheit haben viele Ostdeutsche offenbar vergessen. So wie nicht wenige Westdeutsche die Demokratie, die sie immer getragen hat, aktuell augenscheinlich geringschätzen. Die globale rechtsextreme Propagandamaschine, die über eigene Plattformen und über Social Media ungehindert senden kann, hat offenbar ganze Arbeit geleistet. Dem kann man vermutlich nur mit Meinungsfreiheit begegnen.

„Stell dich doch mal in Moskau auf den Roten Platz und ruf ganz laut: Putin ist Scheiße“, schlug ich meinem Freund vor. „Dann werde ich doch verhaftet“, sagte er. „Könnte schon sein“, sagte ich: „Dann reden wir noch mal über Meinungsfreiheit.“

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Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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